Maraike P.
Mein Weg zum inneren Frieden

Vorwort:

Wir haben uns entschlossen, d. H. Karin und ich, dass Buch unserer verstorbenen Freundin Maraike auf unserer Homepage zu veröffentlichen. Sie wollte ihre Gedanken immer einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und hatte uns kurz vor ihrem Tod beauftragt, ihre Notizen zu einem Buch zusammenzufassen. Wir haben dann 10 Stück handgebundene Exemplare in der original Formulierung erstellt und auf ihrer Beerdigung an ihre engsten Freunde weitergegeben. Da wir aber bis heute nicht das Budget haben, um es verlegen zu lassen, erscheint es auf dieser Homepage. 

 


"Die Frau, die ich bin, musste schweigen damit
der Mann, der ich zu sein hatte, leben konnte!"
                                                                                          Jayne-Ann Igel

Das Buch, welches hier vor Ihnen liegt, ist nicht irgendein Buch nur so zum Lesen, sondern es enthält die Geschichte einer Frau, die als Mann geboren wurde, als Kind schwer unter den Hänseleien Gleichaltriger wegen seines viel zu schmächtigen Körperbaues litt, als Teenager immer auf der Suche nach inneren Frieden, dann dem Alkohol verfiel und erst Jahre später in einer Suchttherapie zu sich selber fand. Sie erzählt von Erfahrungen vor der geschlechts- angleichenden Operation, welche es ihr erlaubten, so zu leben wie sie sich fühlte - als Frau unter Frauen und als Lesbe.

Also auf den ersten Blick eine Geschichte wie sie tausendfach vorkommt und doch eine individuelle Lebensgeschichte.




1. Teil

Kindheit und Jugend

Es muss wohl eine ziemlich verrückte Zeit gewesen sein, in die ich damals hineingeboren wurde; die Eltern waren knapp ein Jahr verheiratet, Woodstock war gerade vorbei und alle Welt redete von "Love and Peace". Bereits einige Jahre zuvor, 1961, wurde durch den Bau der "Berliner Mauer" eine Grenze mitten durch Deutschland errichtet, wodurch ich im Ostteil, in der DDR, aufgewachsen bin und deren Fall ich im Oktober 1989, nach 28 Jahren ihres Bestehens, miterleben sollte.


Als erstes Kind, meiner damals relativ jungen Eltern, die Mutter war 19 und der Vater 25 Jahre, erblickte ich am 01. August 1969 in Schwerin, einer mittleren Großstadt inmitten der "Mecklenburgischen Seenplatte" gelegen, das Licht der Welt. Heute ist Schwerin die Landeshauptstadt von Mecklenburg/Vorpommern und für meine Begriffe nicht mehr ganz so schön wie früher. Vieles hat sich seitdem ge- und verändert. Ein Grossteil der für mich so reizvollen ländlichen Umgebung fiel mit der Zeit dem Bauboom der 70er und 80er Jahre zum Opfer. So verschwand z. B. der größte Teil des großen Waldes, welcher die Stadt so reizvoll machte. Heute erstreckt sich dort ein riesiges Wohngebiet für mehr als 60.000 Menschen, der "Grosse Dreesch". Andere Orte, damals noch Dörfer, wie Lankow oder Neumühle, sind heute bereits Eingemeindet oder fast schon zum Kern der Stadt zu zählen.
Doch zurück zur Zeit, als daran noch nicht zu denken war.
Da ich als Junge geboren wurde, wurde ich auf den Namen MAIK getauft. Kurz, knapp und doch mit der besonderen Schreibweise des 'ai', statt des üblichen 'ike'. Weshalb ich gerade diesen Namen erhielt, konnte ich nie so recht in Erfahrung bringen. Ich fand jedoch heraus, dass nicht meine Eltern, sondern die Großeltern väterlicherseits, die Wahl des Namens stark beeinflusst hatten.
Bereits während der Geburt bemerkten die Ärzte, dass ich nicht ganz gesund sein würde. Ich kam also mit einem Herzfehler und einem problematischen Magen zur Welt. Da beides den Ärzten operabel erschien, verbrachte ich die ersten, wichtigen Lebensjahre in mehreren, zum Teil hochkarätigen Kliniken, - umringt von Apparaturen, Schläuchen und weiß gekleideten Menschen. Man wollte mir wohl jede noch so winzige Möglichkeit des Überleben angedeihen lassen. Denn, während ich von einer Klinik zur anderen "zog", wurde meine Mutter noch zweimal schwanger.
Als erstes erblickte Marko am 2. Sept. 1970 das erste Mal die Schönheit dieser Welt und relativ kurze Zeit später wurde am 8. Mai 1972 Sven geboren.
Nachdem ich wieder zu Hause war, im November 1973, hatte ich also bereits zwei Brüder, wobei der ältere der beiden sogleich anfing, seine "Vormachtstellung", die er sich dem Jüngeren gegenüber bereits erkämpft hatte, durchzusetzen. Von klein auf genau das Gegenteil von mir, gesund, kräftig und schon als Kind ein schöner Junge, entwickelte sich ihm gegenüber langsam so etwas wie Neid. Wollte ich ihm doch anfänglich immer diese Stellung streitig machen, da sie ja theoretisch mir, dem Erstgeborenem zustand. Aber, so neidisch ich auch auf meinen Bruder sein mochte, immer war er zur Stelle wenn ich ihn brauchte.
Als dann am 22. Febr. 1974 auch noch meine Schwester Maren geboren wurde und sich alle Aufmerksamkeit der Eltern auf sie konzentrierte, ebbte dieser "Stellungskampf" langsam ab und ich fügte mich in die untergeordnete Rolle des "behinderten Bruders", meiner so starken Geschwister, denn alle Nachgeborenen waren ja kerngesund und kräftig. Auch noch als Teenager hatte ich immer das Gefühl, als minderwertig geltend, gehänselt und ausgelacht zu werden. Ständig brauchte ich jemanden an meiner Seite, der mich beschützte oder tröstete, wenn die Hänseleien all zu arg wurden. War es am Anfang der "Grosse", so übernahmen nach und nach auch die "Kleinen" diese nicht gerade "ruhmreiche" Aufgabe. Trotzdem, irgendwie konnte ich mich nie so richtig damit abfinden, einerseits der "Erstgeborene", aber andererseits immer auch der "Behinderte", den es zu beschützen galt, gewesen zu sein. Selbst jetzt, Jahre später, denke ich deshalb nur sehr ungern an diese Zeit zurück.
Manchmal frage ich mich, was wäre, wenn ich gesund zur Welt gekommen wäre?
Weil ich jedoch keine zufriedenstellende Antwort darauf fand, ließ ich es mit der Zeit sein, mir darüber weiter den Kopf zu zerbrechen.
Da die Eltern beide arbeiteten, die Mutter als Kindergärtnerin und der Vater als Heizungsmonteur, um das nötige Kleingeld fürs Leben zu verdienen, wuchsen wir - mittlerweile "vollzählig" - bei unseren Großeltern am Rande der Stadt auf. Dort war genügend Platz für uns alle und viel Freiraum zum herumtoben, ein Dorf eben.

Kurze Zeit nach meiner endgültigen Entlassung aus den Krankenhäusern, kam ich 1973 in den Kindergarten, einer Ganztageseinrichtung für Kinder. Immer noch etwas kränkelnd, kam ich in dieselbe Gruppe, welche meine Mutter leitete. So hatte sie immer ein Auge auf mich und konnte zur Stelle sein, wenn mit mir mal was nicht in Ordnung war.
Im Alter von 6 Jahren wurde ich dann 1975, nach dem Willen meiner Eltern und von den Ärzten aufgrund des Herzfehlers und des aufgetreten Minderwuchses, als "Körperbehindert" eingestuft, in die damals neu eröffnete "Schule für körperlich behinderte Kinder" eingeschult.
Am Anfang hieß es vom Schulministerium, dass die Schulzeit zunächst nur 4-5 Jahre dauern und wir danach in ein Internat, außerhalb von Schwerin , die Schulzeit beenden sollten. Dagegen legten unsere Eltern, sowie einige Lehrer, bei der zuständigen Schulbehörde erfolgreich Protest ein. Sie setzten somit den Anfangspunkt für den weiteren Aufbau dieser Schule. Mit dem Ergebnis, dass sie heute noch, Jahre später, als "Mecklenburgische Schule für Körperbehinderte", mit dem Status einer 10-klassigen Realschule, existiert.

Ich erinnere mich, dass wir vom ersten Schultag an täglich mit dem Taxi zur Schule hingefahren, und auch abends nach dem Unterricht bzw. nach der Hortgruppe, in der wir unsere Hausaufgaben erledigten und den Rest des Nachmittags spielen konnten, auch wieder mit dem Taxi heimgefahren worden sind.
Von der 6. Klasse an, waren diese kostenlosen Fahrten vorbei. Wir waren nun alt genug, um alleine zur Schule fahren zu können. Da ich täglich zweimal quer durch die Stadt mit der Straßenbahn von der Wohnung meiner Eltern nahegelegenen Haltestelle bis zur Endhaltestelle, gleich neben der Schule, fahren musste, sah und erlebte ich plötzlich, dass es außerhalb unserer Schulmauern und -plätze auch Kinder gab, die anders waren als ich es vorher erlebt hatte, denn sie waren gesund. - Körperlich zumindest!
Aber ich erlebte plötzlich auch die Grausamkeit, mit der nicht behinderte Kinder auf die für sie fremdartig anmutende Behinderung gleichaltriger sahen und reagierten. So spürte ich schon sehr früh, dass ich körperlich schmächtiger und schwächer war. Ich bot immer genügend Angriffsfläche für Hänseleien und Prügel, was oft rigoros ausgenutzt wurden, denn ich wehrte mich nie. Warum, konnte ich mir selbst nicht erklären. Ich wehrte mich eben einfach nicht - hatte irgendwie nicht die innere Kraft und auch nicht die Lust dazu, meine Hand gegen irgend jemand Anderen zu erheben. Dann kam es nicht selten vor, dass ich weinend vor meinen Eltern stand und mich über die "Hänseleien" der Anderen beschwerte. Daraufhin bekam ich oft zu hören: "Du bist ein Junge, also setz dich selbst zur Wehr. Ich kann dich nicht ewig beschützen. Lern dich durchzusetzen!" Also versuchte ich diesem Rat zu folgen.
Alle Versuche hatten jedoch immer wieder ein Ergebnis, am Ende war ich derjenige, welcher das "Schlachtfeld" meist weinend und mit unzähligen Schrammen am Körper verließ. Kam ich so, mal blutend, mal mit einem blauen Auge oder manchmal auch mit einem ausgeschlagenen Zahn zu Hause an, musste ich mir dort auch noch die Vorwürfe meiner Mutter anhören, wo ich denn nun wieder herkomme und ob ich nicht "ordentlich" spielen könnte. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was sollte ich denn nun tun? Wenn ich mich wehrte, gefiel dies Mutter nicht, da sie Angst hatte ich könne "zusammenbrechen". Mich nicht zur Wehr setzen, sondern nur die Prügel einstecken und manchmal auch heulen, hieß in den Augen meines Vaters, ich würde nie ein "richtiger" Junge werden, da ein Junge auch austeilen können müsse. Irgendwie saß ich in der Zwickmühle.
Da ich keinen Ausweg sah, begann ich damit, mich komplett in mich selbst zurückzuziehen. Nach außen mimte ich den "starken Mann". Der ohne zu heulen Schläge einsteckte so wie hier und da, meist bei den Schwächeren, auch mal austeilte. Wie sehr es mich innerlich selbst verletzte, jemanden zu schlagen, zeigte ich niemandem. Nur wenn ich wusste, ich war alleine, was sehr selten geschah, ließ ich meinen Tränen freien Lauf.
Drohten die unterdrückten "Verletzungen" jedoch zu stark zu werden, versuchte ich diese über Musik abzubauen. Dabei zog ich mich meist, wenn die anderen draußen beim Spielen waren, in das Kinderzimmer zurück und hörte dort oft stundenlang dieselbe Platte. Mal war es softiger Rock oder ein anderes mal einfache Schmusesongs. Die Gemeinsamkeit war oft nur über die Texte zu erkennen. Ich suchte nach Nähe, Liebe und Verständnis. Aber diese Gedanken und Gefühle schienen nicht recht zu passen, niemand hörte richtig hin, wollte sehen und erkennen, wie ich mich innerlich fühlte. Zerrissen zwischen dem Sein müssen und dem tatsächlichen Sein.
Aufgrund damals noch herrschender "sozialistischer" Weltansichten in der DDR, wurde ich während der Schulzeit "Pionier" und später dann Mitglied der "FDJ".

Im Rückblick auf diese Zeit; heute, etliche Jahre später schmunzle ich, wenn ich darüber nachdenke, wie naiv und beschränkt ich damals dachte, als es darum ging, eintreten oder nicht. Ich tat es einfach. Es war damals nun mal so üblich! Wer machte sich denn schon große Gedanken darüber, ob es richtig sei oder nicht. Erst mit 14 Jahren begann ich das erste Mal über die Widersprüche in meiner unmittelbaren Umgebung nachzudenken, diese zu hinterfragen.

Als ich dann durch Thomas, einem Schulfreund, erfuhr, warum er nicht an der damals üblichen und zur Pflicht erhobenen Jugendweihe, einer Feierstunde zu "Ehren der aus dem Kindesalter heraus ins Erwachsenenalter tretenden Jugendlichen", teilnahm, begann ich mich für seine, mir fremd anmutende Weltanschauung zu interessieren. Ich war auf der Suche. Auf der Suche nach dem Sinn meines Lebens. Wollte und konnte mich einfach nicht damit abfinden, dass mein Leben so eintönig werden sollte, wie das meiner Eltern. Es musste noch andere Möglichkeiten geben. Plötzlich ergab die uns anerzogene Ideologie für mich keinen Sinn mehr, ja sie schien längst überholt zu sein. Um aber nicht meinen Eltern in den Rücken zu fallen, nahm ich, selbst unter dieser inneren Zerrissenheit leidend, an dieser Feier teil, ja sprach sogar die für solche Anlässe übliche Dankesrede.
Als ich versuchte, meine Zweifel zu Hause zu äußern, sie in Worte zu fassen, gab es riesigen Ärger. Wieder einmal hatte ich mit einer Nadel in ein Wespennest gestochen. Denn dass beide Elternteile politisch sehr aktiv in der SED mitarbeiteten, wusste ich. Was ich jedoch nicht wusste, war, dass solch "unpolitisches" Denken nicht offen geäußert werden durfte. Vater und Mutter fürchteten um ihre Existenz, wenn sie diese Gedanken zuließen, welche ihrer Ansicht nach unvereinbar mit dem auch von ihnen propagierten Sozialismus waren. Ich lernte, meine Gedanken nur dort zu äußern, wo ich "relativ" sicher war. Ansonsten hielt ich meinen Mund. Ließ kein Wort heraus, was die Grundmauern der elterlichen Existenz hätte einstürzen lassen können. Um diesem inneren Druck Luft zu machen, nahm ich gleichzeitig heimlich Bibelunterricht; um mehr über diese andere Weltanschauung kennen zu lernen, sie richtig verstehen zu können; um meinen Wissensdurst nach anderen Möglichkeiten zu stillen und mit meinem inneren Durcheinander klarzukommen. Ich versuchte auszubrechen, aus diesem allgemeinen Trott des blinden Hinterherlaufen, hinter einer Ideologie die ich nicht mehr verstand. Entgegen allem äußeren Druck ließ ich mich am 21. Mai 1988, etwa ein Jahr darauf, taufen. So wurde auch nach außen sichtbar, dass ich die alte Ideologie abgelegt hatte und in die Kirche eingetreten war.

Ich bin mir nicht ganz sicher, aber irgendwann in dieser Zeit, fingen wohl die Zwistigkeiten zwischen den Eltern und mir an. Lautstarke Auseinandersetzungen, stures Verhalten meinerseits, sowie ständiges Ausweichen in die Einsamkeit meiner Gedanken und Träume, waren die Folge. So vergingen die Jahre.

Mittlerweile passte ich mich wieder den äußeren Gegebenheiten an, um keinem auch nur den kleinsten Anlass zu Beschwerden zu geben. Mir fehlte einfach die Kraft, jeglichen inneren Protest offen nach außen zu demonstrieren. Da auch meine innere Zerrissenheit nicht ganz aus der Welt zu schaffen war, suchte ich nach einem mir eigenen, nicht ganz so konventionellen Weg. Eine der wenigen Möglichkeiten, meine Gedanken und Gefühle zu äußern, fand ich für mich im Schreiben, mit der mir eigenen Sprache von Vorder- und Hintergründigkeit.

... "Keiner hörte mein SOS, so verzweifelt ich auch rief! Ich wollte Liebe und bekam Taschengeld, ich wollte Wärme und die Heizung wurde eingestellt, ich wollte reden und bekam ein Videospiel. Ich wollte Freundschaft mit meinen Eltern und bekam Befehle und Kommandos rund um die Uhr! Niemand hatte Zeit mich, jeder dachte nur an sich! Warum habt IHR mir das damals angetan! Ihr glaubtet wohl ich wäre ein normaler Mann. Doch ich bin und war anders, immer anders als es nach außen den Anschein hatte! Sagt, was kann ich denn dafür, dass ich anders bin als ihr? Ich wurde verrufen und verspottet, doch ich schlug nie zurück, sondern ich dachte, ich find allein mein Glück! Alles was ein Ende hat, hat auch einen Anfang. Doch was einmal war, ist auch mein Leben. Doch was bleibt? Was bleibt sind Freunde im Leben! Wie viel Liebe fehlte mir, so dass ich gehen wollte, ohne Wiederkehr? Mein Leben wollte ich mir schon nehmen, bis zum Ende war es oft nur noch ein kleiner Schritt. Und doch hielt mich die Hoffnung auf ein Morgen davor zurück!"

Die Texte schrieb ich in einem kleinen Tagebuch mit schwarzem Einband nieder, klein genug um in jede Westentasche zu passen, damit ich es immer bei mir haben konnte, wenn mir etwas einfiel. So stellte dieses Buch für mich einen Übergang von meiner Traumwelt und der nicht so rosig erscheinenden Realität dar. Hier lebte ich in meiner eigenen Welt. Konnte sein, was ich mir immer wünschte und doch nach außen hin nicht war, nämlich ein Mädchen. Denn die Frau, die ich nur innerlich war, musste jahrelang nach außen hin schweigen, damit der Mann, welcher ich nach außen zu sein hatte, schreiben, leben und auch überleben konnte. Und doch trat sie immer wieder zwischen den Zeilen hervor.

Zeitweise glaubte ich, langsam verrückt zu werden, da ich ja von klein auf an gelernt hatte, das nicht sein konnte, was nicht sein darf. Und dazu gehörten eben auch diese innersten Wünsche, ein Mädchen zu sein. Doch nach und nach ließ ich meinen Wünschen, Träumen und Gedanken auch nach außen hin freien Lauf. Ich begann damit mich, wenn auch nur heimlich, bei meiner jüngeren Schwester am Kleiderschrank zu "bedienen". Ihre Kleider hatten für mich etwas faszinierendes. In ihnen fühlte ich mich wohl. Trotz der Tatsache, dass das was ich da tat, "verboten" war und von niemandem bemerkt werden durfte, konnte ich diesen Kleidern nicht widerstehen. Immer häufiger bestaunte ich die neu entstandene Person, oft stundenlang, vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer der Eltern. Ein warmes Gefühl, nur in Kleidern mich wohl zu fühlen, wirklich frei und endlich ich zu sein, machte sich bemerkbar. Ein Gefühl, das ich eigentlich nicht besitzen durfte, und doch war es da. Es erwachte und wurde immer stärker. Da ich mit niemandem darüber reden konnte, weis ich auch nicht ob meine geliebte Schwester jemals etwas davon bemerkt hatte. Nach außen hin versuchte ich weiterhin möglichst nicht aufzufallen. Verdrängte meine inneren Gefühle.
Da ich auf meine Fragen von den Eltern keine zufriedenstellenden Antworten erwartete, flüchtete ich mehr und mehr in Unmengen von Alkohol. Der Weg in die Sucht begann.
Niemand bemerkte meine innere Zerrissenheit, selbst nicht, als der zur Verdrängung notwendige gewordene Alkoholverbrauch immer größer wurde. Zwar fragten mich oft meine Eltern, warum ich immer und immer wieder mit einer "Fahne" erst nachts nach Hause kam, doch jedes Mal hatte ich irgend eine Ausrede für sie parat. Was hätte ich ihnen sagen sollen, da sie in meinen Augen die Wahrheit nicht verstanden hätten? Also verstrickte ich mich in irgendwelche Lügen. Und alles nur weil ich Angst hatte, sie würden meine Neigung zu Kleidern nicht verstehen.


Ramona, die erste Liebe

Mittlerweile war ich 18, also alt genug eine Lehre aufzunehmen. Diese begann ich am 1. Oktober 1987 im Plast- und Elastverarbeitungswerk Schwerin/Sacktannen und beendete sie 1989. Um den wachsenden inneren Druck möglichst nicht an die Oberfläche kommen zu lassen, und um mich nicht offenbaren zu müssen, stürzte ich mich mehr und mehr in die Arbeit. Ich übernahm Überstunden, fuhr Doppel- und Sonderschichten. So verdiente ich mein eigenes Geld und brauchte niemandem Rechenschaft ablegen, wofür ich es ausgab. Zu dieser Zeit lernte ich Ramona, ein Mädchen mit blondem, kurzem Haar kennen. Sie wohnte damals im, der Wohnung meiner Eltern gegenüberliegendem, Jugendwohnheim. Irgendwann, als ich es wieder einmal zu Hause nicht mehr aushielt, ging ich in dem Heim naheliegenden Wald spazieren, um meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Da traf ich sie, ebenfalls alleine durch den Wald streifend. Vom ersten flüchtigen Sehen bis zum Kennenlernen vergingen wohl nur Sekunden. Wie ein Blitz trafen sich unsere Blicke. Wohl beide ahnend, dass wir wie füreinander geschaffen waren, verabredeten wir uns für den darauffolgenden Tag. Fast täglich waren wir nun bis spät in die Nacht zusammen, redeten, liebten und stritten gemeinsam über unsere Umgebung. Schon nach relativ kurzer Zeit wurde jedoch der innere Druck, meine tiefsten Gedanken und Gefühle äußern zu müssen und sie ihr nicht länger verheimlichen zu können so groß, dass ich es ihr an einem dieser Abende "beichtete". Ich nahm sie bei der Hand, zog sie zu mir heran, gab ihr einen liebevollen Kuss und begann zögernd, etwas stotternd noch, zu reden. Dabei war ich immer darauf bedacht, ihr nicht in die Augen zu sehen, damit sie meine Tränen nicht sehe: 
"Ramona, ich muss dir etwas sagen, was mir nicht leicht fällt. Aber ich halte es einfach nicht mehr aus, alles für mich zu behalten. Du weißt, dass ich dich liebe; aber da ist etwas, was mich noch hindert, die Beziehung zu dir zu vertiefen. Ich kann es nicht so recht beschreiben, irgendwie habe ich das Gefühl, dich auf eine Weise zu lieben, die für einen Mann "unnormal" ist. Ich weiß nicht, ob ich eventuell bisexuell bin oder so ..., keine Ahnung wie man das sonst nennt! Irgendwie sehne ich mich mehr nach Zärtlichkeiten und Streicheleinheiten als andere Jungen.
Und, was für mich am "unnormalsten" ist, ich sehe mich in meinen Träumen nie als Jungen. Dort fühle ich mich in Kleidern und weiblicher Kleidung wohl, fast so als wäre ich ein Mädchen und kein Junge. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich empfinde scheinbar genauso wie du. Aber ich bin doch ein Junge, oder!? Und trotzdem kann ich mich in dich besser hineinversetzen als in die Gefühlswelt eines Jungen, wie meinen Bruder zum Beispiel."
Während ich erzählte, schien Ramona völlig in sich gekehrt - sagte kein Wort. Statt dessen drückte sie mich immer fester an sich und ich spürte, dass auch sie mit den Tränen kämpfte. Nachdem ich geendet hatte, versicherte sie mir, dass sich nichts an ihrer Liebe zu mir ändern würde. "Du kannst dich auf mich verlassen. Das stehen wir gemeinsam durch" waren ihre Worte. Mir fiel ein Stein vom Herzen, hatte ich doch innerlich die Angst gehabt, sie durch diese Offenheit zu verlieren. Endlich konnte ich mit jemandem über Dinge reden, die in der Gesellschaft nur als Jugendphantasien abgetan oder ganz unter den Teppich der Verschwiegenheit gedrängt wurden, mich aber um so mehr belasteten.
Eines Tages beschlossen wir, sie meinen Eltern vorzustellen. Kaum bei mir zu Hause angekommen, öffnete meine Mutter die Türe. Als sie uns beide Arm in Arm die Treppe hochkommen sah, fragte sie mich, was ich denn wolle und wer denn das Mädchen an meiner Seite wäre. Etwas überrumpelt von solch einer Schärfe in ihrem Ton, antwortete ich nur stotternd: "Da...das ist Ramona, meine Freundin." Daraufhin antwortete Mutter, immer noch in einem Ton, der keinen Widerspruch zu dulden schien: "Aber du bist doch noch viel zu jung für eine Freundin. Lass das mal lieber. Außerdem haben wir Besuch und dein Zimmer ist auch noch nicht aufgeräumt." Mit diesem letztem Satz versuchte sie mir zu erklären, dass eine Freundin meinerseits nicht angebracht, geschweige denn geduldet würde. Kaum, das sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, zog mich Ramona leicht am Ärmel und erklärte mir mit einem Blick: "Komm, lass uns gehen. Es gibt sonst nur noch größeren Ärger."
Nach mehreren solcher missglückten Versuchen, Ramona meinen Eltern vorzustellen, bei denen mir immer wieder vorgeworfen wurde, sie sei zu jung für mich und ich ja noch nicht für eine feste Beziehung bereit genug, hielten wir es beide für das Beste, unsere "unerwünschte Liebe" im Geheimen weiterzuführen.
Nach etwa einem Jahr, wurde sie, da sie volljährig war, aus dem Wohnheim entlassen und zog zu ihren, etwa 60 Kilometer entfernt wohnenden Großeltern.
Doch auch diese Große Entfernung konnte unserer Beziehung nichts anhaben. Im Gegenteil. Jedes Wochenende an dem ich nicht arbeiten musste, nahm ich mein Rad und fuhr zu ihr. Hier, bei ihr Zuhause, wurde unsere Liebe akzeptiert und niemand nahm Anstoß daran, dass wir auch miteinander schliefen. Wir fühlten uns sehr wohl und fanden es schön, auch die Nächte miteinander zu verbringen. Trotz meiner Unsicherheit, dem eigenen Genital gegenüber, war es mein eigener "Schwanz", der ihr Freude, ja sogar Lust bereitete. Selbst versuchte ich dieses Teil zwischen meinen Beinen zu unterdrücken. Ignorierte, dass es tatsächlich mein Genital war, das bei ihr die Lust hervorbrachte. Ich war schon beglückt, wenn sie mich in die Arme nahm und mich einfach nur streichelte.
Einige Zeit später begann Moni, wie sie von mir oft liebevoll genannt wurde, immer häufiger über stark anhaltende Kopfschmerzen zu klagen. Nach mehreren ärztlichen Untersuchungen, stationär und ambulant, wurde ihr mitgeteilt, dass sich in ihrem Kopf ein bösartiger Tumor gebildet hatte. Ihr Leidensweg begann. Wieder und wieder wurde sie untersucht. Irgendwann begannen die Ärzte damit, da sie den Tumor nicht restlos entfernen konnten, sie mit Medikamenten, die zumindest die Metastasenbildung verhindern bzw. unterdrücken sollten, "voll zu pumpen". Haarausfall, dauerndes Erbrechen und ständige Übelkeit waren die Folge.
dass diese Zeit auch an mir nicht spurlos vorüberging, kann man sich denken. Täglich fuhr ich nun nach der Arbeit ins Krankenhaus, nur um sie zu sehen und ihr Mut zu machen für die Tests und Untersuchungen am nächsten Tag. Viele unserer Bekannten, Freunde und auch meine Eltern sahen ihre Chance gekommen unsere Liebe zu zerbrechen. Sie rieten bzw. drängten uns geradezu doch auseinander zugehen mit der lapidaren Begründung: "Es ist sicher besser für Euch!" Aber das taten wir nicht.

Heute bin ich der Meinung, dass gerade ihre unheilbare Krankheit uns einander noch näher brachte und sie auch dadurch stärkte, den eigentlich aussichtslosen Kampf aufzunehmen. Wir waren beide ganz fest der Ansicht, den Kampf gewinnen zu können. Ramona prägte damals den für mich auch heute noch gültigen Satz: "Leben heißt lieben und geliebt werden!"

Einige Tage später, im Dezember 1988, sie war zu einem Wochenende vom Krankenhaus beurlaubt worden, verlobten wir uns. Selbst dieses für uns wichtige Ereignis wurde vor allem meinen Eltern gegenüber geheimgehalten. Nur wenige ausgewählte Personen, ihre Großeltern, bei denen sie bis zuletzt wohnte, Niels - einer unserer besten Freunde, sowie Moni's beste Freundin, erfuhren davon. Einige Wochen später wurde Ramona, nachdem die Ärzte ihr mitteilten, dass sie nicht mehr als maximal ein Jahr leben würde, aus dem Krankenhaus entlassen. Plötzlich war ihr Lebensmut gebrochen. Der Tumor hatte den Kampf gewonnen. Ein halbes Jahr darauf, etwa Mitte Juli 1989, starb Moni. Für mich war es mehr als ein Schock, miterleben zu müssen, dass die erste Liebesbeziehung so gewaltsam auseinandergerissen wurde. Ich habe sehr lange gebraucht, um es akzeptieren zu können.


Zwischen den Geschlechtern

Kurze Zeit später kam im Oktober die politische Wende in der DDR. Endlich, so dachte ich, würde ich meine Gedanken frei und ohne Anstoß zu nehmen, äußern können. Doch weit gefehlt, denn auch meine Eltern hatten sich gewendet. Wenn auch nur äußerlich, denn innerlich waren sie noch genauso konservativ wie vorher. Als dann im Dezember mein Bruder die DDR über die Botschaft in der Tschechei verließ, schien für sie die Welt für kurze Zeit zu zerbrechen. Wie hätte ich, in dieser Zeit der allgemeinen Unsicherheit, meinen Eltern von meiner inneren Zerrissenheit den eigenen Gefühlen gegenüber erzählen können?
Ich verschob es also auf einen späteren, unbekannten Zeitpunkt.
Eines Tages im "verrückten" Dezember 1989 lernte ich in Schwerin den Club "Einblick" kennen. Es war eine Selbsthilfegruppe von Schwulen, Lesben, Transsexuellen und Transvestiten mit wöchentlicher Diskothek zum Kennenlernen. Da ich damals nicht wusste, was genau mit mir los war, ich dachte mir ja ich sei bisexuell oder so etwas in der Art ... veranlagt, trat ich ein. An einem dieser Discoabende lernte ich dann auch Hans-Jürgen kennen. Einen etwa 45 Jahre jungen Mann, 1,80 m gross, vollbärtig, mit kurzem dunkelblondem Haar und mit einer Statur, die mir jegliche Angst nahm und gleichzeitig die Nähe gab, die ich so schmerzlich vermisste. Wie ich bereits an diesem Abend erfuhr war er Maler, Grafiker und Schriftsteller.
Durch einen Zufall trafen wir uns dann einige Tage später wieder. Es war auf einer monatlichen stattfindenden Hausparty, zu der er von einer Familie aus unserer Hausgemeinschaft eingeladen war. Zuerst taten wir so, als ob keiner den Anderen kennen würde, um den jeweils anderen gegenüber der Hausgemeinschaft nicht zu kompromittieren und keinem Anlass für eventuelle Spekulationen zu geben. Nachdem jedoch die Feier beendet und alles bereits im Gehen war, steckte er mir seine Visitenkarte zu und flüsterte so das nur ich es hören konnte: "Besuch' mich doch einfach mal, wenn du Lust hast." Und genau das tat ich. 
Einige Tage später, zu Hause gab es mal wieder Ärger, nahm ich die Gelegenheit war und ging, da er nur wenige Strassen entfernt wohnte, zu ihm. Bis heute weiß ich nicht, was mich dazu trieb, gerade ihn zu besuchen, ob es nur sein Intellekt war über den ich gestolpert bin oder seine emotionale Ausstrahlung.
Kaum in seiner Wohnung, die nur halb so groß wie die unserige war, angekommen, brachte ich vor Staunen den Mund nicht zu. Das Wohnzimmer schien einer Bibliothek gleich, jede freie Stelle an der Wand war mit Regalen zugebaut auf denen sich Hunderte von Büchern bis unter die Zimmerdecke stapelten. Bei genauerem Hinschauen sah ich, dass es sich hierbei um zum Teil verbotene Bücher handelte. Meine Augen schienen vor Begeisterung überzuquellen, beim Anblick einer solchen Vielzahl von literarischen Werken, angefangen von Brecht, zu Kant, über Strittmatter bis hin zu R. Becher oder Zetkin.
Aber es waren nicht nur die Bücher, die mich so faszinierten. In einer unscheinbaren Ecke des Zimmers fanden sich unzählige Gemälde, alle versehen mit dem Signum: "H.J.", die, wie er mir später sagte, alle aus seiner Hand stammten. Ich war überwältigt. Plötzlich hatte ich jemanden gefunden, dem es vollkommen egal schien, welche Schätze er offen in seiner Wohnung "herumstehen bzw. -liegen" hatte. Langsam entwickelte sich eine intellektuelle Freundschaft zwischen uns, bei der nach und nach die körperliche und auch die sexuelle Nähe nicht ausblieb. Denn schon aus der ersten Begegnung in der Disco wusste ich, dass er schwul war und auch, dass er mich, da ich ja noch Mann war, attraktiv fand. So war es natürlich nicht verwunderlich, dass er mich eines Abends fragte, ob ich bei ihm übernachten wolle. Ich wusste bzw. ahnte was auf mich zukommen würde, dass er versuchen würde meinem "Schwanz" eine Erektion zu entlocken. Trotzdem ließ ich mich auf dieses Abenteuer ein. Was ich vermutete, trat ein. Keine seiner Bemühungen fruchtete, da ich meine eigenen Genitalien nicht als männlich wahrnehmen wollte - sie einfach ausklammerte. Ich wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Die einzige Möglichkeit, selbst zu einem Höhepunkt zu kommen, bestand darin, dass wir es unterließen und ich mit ihm schlief, als wäre ich bereits Frau. So konnte ich es auch als Frau genießen, sein Genital in mir zu spüren.
Nach und nach spürte ich jedoch, dass diese Beziehung zu ihm nicht lange halten würde, da ich ihn innerlich irgendwie als Frau liebte, er mich jedoch als Mann sah. Dies war dann wohl auch der Grund, warum wir uns nach ca. einem Jahr trennten.

Plötzlich wusste ich noch weniger, wohin ich gehörte. Für mich gab es irgendwie keinen klaren Begriff von dem, was in mir vor sich ging. War ich nun bisexuell, schwul oder gab es da noch andere Begriffe, die eventuell besser meine Gefühlslage beschrieben hätten? Ich wusste es nicht, denn den Begriff "Transsexualität", welchen ich ja schon im Club gehört hatte, klammerte ich für mich völlig aus, da ich immer noch dachte, es sei etwas unnormales, perverses.

Natürlich erzählte ich auch darüber meinen Eltern kein Wort. Nur ein Gedanke beherrschte meine Vorstellungen: "Das begreifen die nie! Das versuchen sie dir als Hirngespenst zu erklären und mit aller Macht wieder auszutreiben." Und genau dieses wollte ich aber nicht - auf keinen Fall! Was blieb, waren die Ängste, mich irgendwann einmal bei meinen Eltern "outen" zu müssen. Eine schreckliche Vorstellung für mich, wenn ich bedenke, wie konservativ sie waren!

Knapp 2 Jahre nach der Wende, 1991, wurde ich im April im Rahmen der Umstrukturierung des Betriebes, in dem ich bislang arbeitete, gekündigt. Nun war ich erst mal drei Monate arbeitslos, was eine neue Erfahrung für mich war. In dieser Zeit schrieb ich mehrere Bewerbungen für die Ausbildung zur Krankenpflege. Ich wollte einen Beruf erlernen, der nicht hundertprozentig auf eine Männerrolle festgelegt war. Nach einigen Absagen kam endlich auch eine Zusage.

Am 1. Oktober 1991 begann ich im AK Barmbek in Hamburg die Ausbildung und mietete mir ein Zimmer im Schwesternwohnheim des Krankenhauses. Endlich, so dachte ich mir, könnte ich mich, durch die räumliche Entfernung forciert, auch von der elterlichen Enge zu Hause trennen. Ich wollte mich endlich abnabeln. dass dies nicht so einfach war, merkte ich jedoch schon nach ziemlich kurzer Zeit. 
Fast wöchentlich fuhr ich nun, wenn ich nicht arbeiten musste, das Wochenende zu meinem Bruder, der mittlerweile in der Nähe von Hamburg wohnte und mit ihm dann nach Hause. Einige Monate später stand ich vor der "Probezeitklausur". Viel zu viel mit eigenen Problemen beschäftigt, der Alkoholgenuss war schon zu dieser Zeit kaum noch zu verbergen, fehlte mir natürlich die innere Ruhe, mich gebührend auf diese Prüfung vorzubereiten. Und, was ich befürchtet hatte trat ein, ich fiel durch. Damit war es mir versperrt Krankenpfleger zu werden. Trotzdem schaffte ich es mit der Hilfe einiger Lehrer, dass ich nicht ganz aufhören musste. Ich bekam die Möglichkeit, die kürzere Ausbildung zum Krankenpflegehelfer zu absolvieren. Doch bis zum Beginn der Schule sollten noch einige Monate vergehen. Inzwischen wurde ich als ungelernte Kraft eingesetzt, worüber ich sehr erfreut war, da ich so im Wohnheim weiter wohnen konnte. Kurz nach Beginn der Ausbildung begann ich wieder Tagebuch zu schreiben:

... "Nun war da der erste Schultag, der 1. Oktober 1992. Eigentlich war es ja schon der zweite erste Schultag in Hamburg Barmbek. Wieder sehe ich neue Gesichter, erlebe neue Charaktere. Was wird in diesem neuen Schuljahr auf mich zukommen? Was wünsche ich mir? Was lerne ich, auch über mich?! Fragen über fragen durchbohrten meinen Kopf. Ich sitze derweil auf dem Bett, öffne eine Flasche Bier und versuche lästige Gedanken aus dem Kopf zu spülen.
Immer wieder, besonders abends und nachts, wenn ich alleine bin, befällt mich ein Hagel zermürbender und zweifelnd fragender Gedanken. Oh, wie ich das hasse! Also noch ein Bier aufgemacht. Einfach nur um längst vergrabene Gedanken nicht wieder aufkommen zu lassen und um sie wieder und wieder zu begraben. Nur keine, dass eigene Seelenleben betreffenden Probleme oder Gedanken akzeptieren, geschweige denn aufzuarbeiten! Eine Frage setzt sich aber dennoch immer wieder durch, lässt sich einfach nicht vergraben, kehrt immer wieder, Tag für Tag und wartet auf eine Antwort! " Wer und vor allem, was bin ich?" Sicher, nach außen sichtbar: M. (der Junge); nach außen Unsichtbar: M. (das Mädchen). Und wie reagieren meine Eltern?
Vor dem Tage der Öffnung ihnen gegenüber habe ich regelrecht Angst! Wenn ich es doch endlich fertig brächte, ihnen klaren Wein einzuschenken, wäre für mich die letzte Barriere überwunden, könnte dann auch vor ihnen sein, was ich bin, selbst wenn sie es nicht akzeptieren sollten und/oder könnten. Sonntag. Ein Tag wie jeder andere auch. An dem ich lange schlafe und wie immer mit Migräne im Kopf erst gegen Mittag aufwache. Anschließend gehe ich, weil es so ein warmer Sonnentag ist, auf den Balkon des Schwesternhauses, um mich zu Bräunen. Am späten Nachmittag dann, wenn die Sonne keine Wärme mehr abgibt, gehe ich in das viel zu kleine Zimmer und frage mich: "War das schon alles? Oder kommt noch etwas?" Ja, es kommt noch was! Wenn es kein Besuch ist, was selten genug vorkommt, dann kommen auf jeden Fall die Gedanken. Wie Tausende von kleinen unruhigen Tierchen durchdringen sie den Kopf.
Und dann, irgendwann, versuche ich sie zu ordnen. Aber sie wollen sich nicht ordnen lassen. Nicht so wie du es willst. Statt dessen gehen sie ihren eigenen Weg.
Diese Gedanken konfrontieren mich plötzlich mit Fragen, die ich glaubte vor langer Zeit verschlossen und vergraben zu haben. Nun aber begannen sie wieder auf mich einzustürzen und verlangten befriedigende Antworten. Aber bin ich schon zu endgültigen Antworten bereit? NEIN - eigentlich nicht - hämmert es in mir los. Aber, fragen die Gedanken, wann bist du soweit? Wenn du dem Tode in die blutunterlaufenen, tränenden Augen siehst? Ja wann eigentlich, frage ich mich nun selbst! Ich weis es nicht. Und warum nicht, beginnt ein anderer Gedanke sein bohrendes Werk, warum hast du dich seit Monaten nicht mehr zu Hause gemeldet? Vor wem oder vor was hast du Angst? Ist es die Angst davor wieder bevormundet zu werden? Oder könnte es sein, das du Angst hast, deine Eltern könnten dich "outen" und anschließend verstoßen?
Wahrscheinlich von allem Etwas - antworte ich mir selbst!" ...

Gleichzeitig, kurz vor der Therapie, fing ich an nach einem geeigneten Namen für mich zu suchen. Bei dem, welchen ich zu der Zeit wählte, kam ich mir dann manchmal wie eine ausgedachte Person vor, die keinen Namen hat, zumindest keinen, hinter den sie sich stellen kann - der zu ihr gehört: MAIKE.

Sucht und Therapie

Ich weis heute nicht mehr genau wann, aber es müsste so im jugendlichen Alter von 16 Jahren gewesen sein, als ich mein erstes Bier trank. Ganz deutlich erinnere ich mich jedoch noch an den Geschmack, den ich nach dem ersten Schluck empfand: es schmeckte einfach scheußlich und ich fragte mich, wie Menschen solch ein "Gesöff" Tag für Tag zu sich nehmen konnten!
Um aber bei meinen damaligen Freunden nicht als Versager dazustehen, trank ich die mir angebotene Flasche auch leer. Für mich war es irgendwie auch eine "Mutprobe", anderen zu zeigen, dass ich, trotz der niedrigen Körperhöhe, niemandem nachzustehen brauchte. In den folgenden Jahren trank ich relativ wenig, nur in Gemeinschaft dieser "Freunde", und immer noch heimlich.
Mit der Zeit jedoch stellte ich fest, wie der Alkohol meine Geschmacksnerven betäubte, das Bier immer "besser" schmeckte und auch der Verbrauch stetig zunahm. Eines Tages, im Alter von nun schon 19 Jahren, fragte mich zum Abendessen mein Vater überraschend, ob ich nicht ein Glas mit trinken wolle, hatte er doch längst mitbekommen, dass ich heimlich trank. Erstaunt und mit weit aufgerissenen Augen sah ich zuerst ihn und anschließend meine Mutter an, denn ich wusste plötzlich nicht mehr, ob er es ernst oder spaßig meinte.
Mutter nickte nur und schien mit ihrem Gesichtsausdruck zu sagen: "Es länger Geheimzuhalten oder zu leugnen nützt keinem etwas." Von nun an fragte mich mein Vater des öfteren, ob ich nicht ein Bier mittrinken wolle. Und doch, bis heute werde ich das Gefühl nicht los, dass jedes Mal ein provokativer Unterton mitschwang. Nach und nach entdeckte ich dann noch eine Seite des Alkoholgenusses; man konnte ihn gut als Fluchtmittel bei anstehenden Problemen einsetzen. Der Verdrängungsmechanismus ließ sich kontrollieren. Natürlich führte diese Erkenntnis dazu, dass sich mein Trinkverhalten schlagartig änderte.
Statt einer Aufarbeitung anstehender Probleme, wie die immer häufiger werdenden Auseinandersetzungen mit meinen Eltern oder das nicht verkraften des Todes meiner Freundin und anderes mehr, wurde der Griff zur Flasche als Seelentröster eingesetzt. Irgendwann, ich arbeitete bereits in Hamburg, merkte ich, dass ich morgens mit zitternden Händen schweißgebadet aufwachte und schließlich die Kaffeetasse nur noch mit beide Händen zum Mund führen konnte, um nicht die Hälfte zu verschütten. Sobald ich jedoch anschließend 1-2 Flaschen getrunken hatte, hörte das Zittern auf und es ging wieder mit einer Hand. Auch bemerkte ich in dieser Zeit, wie sich meine Handschrift langsam veränderte, undeutlicher und z.T. unleserlicher wurde. Und dann kam, was kommen musste. Der Tag, an dem ich selbst mit einer "Alkoholfahne" zur Arbeit ging, anstatt mich krank zu melden und auszunüchtern.
Ich bemerkte zwar all diese Veränderungen an mir und mit mir und doch versuchte ich es weiter zu überspielen, fand irgendwelche Ausreden und machte doch nur mir selbst etwas vor. Plötzlich wurde ich jedoch aus dieser "Scheinwelt" in die Wirklichkeit zurückgerufen.

Dies geschah am 3. Dezember 1993, als mir von meiner Vorgesetzten erklärt wurde, dass mein Arbeitsplatz zur Disposition stehen würde, wenn ich nicht etwas gegen meinen übermäßigen Alkoholmissbrauch zu unternehmen gedenke. Da ich Angst hatte, meinen Job zu verlieren, willigte ich ein. In meinem Tagebuch findet sich dazu folgende Eintragung:

... "Es ist Freitag, der 3. Dezember 1993, 5 Uhr morgens. Der Wecker holt mich mit seinem undeutlichen Gebrumme aus dem hart erkämpften Schlaf. Aber ich habe Frühdienst und muss pünktlich sein. Also raus aus dem Bett und unter die Dusche. Plötzlich wird mir schwarz vor den Augen und ich falle rücklings wieder aufs Bett zurück. Alles geschieht in Bruchteilen einer Minute. Erinnerungen an den gestrigen Abend kommen auf und verblassen wieder. Nun meldet sich auch mein Kopf mit einem krampfartigen Zusammenziehen aller noch unter Rauschmittel stehenden Nervenzellen zurück. Dadurch stelle ich wieder einmal mehr fest, dass ich immer noch alkoholisiert bin. Da ich mir jedoch keine weitere Krankmeldung leisten kann, zwinge ich mich unter größter Anstrengung unter die Dusche um mich dort etwas abzukühlen. Nach dem kalten Wasserguss noch schnell zwei Becher Kaffee zur Geruchsneutralisierung heruntergestürzt, eine starke Tablette gegen die unglaublichen Kopfschmerzen geschluckt und los geht's.
Vor der Haustüre empfängt mich gleich eine kalte Brise, die mich scheinbar zusätzlich wecken und mir klare Gedanken einzublasen versucht. Tief ein- und ausatmend versuche ich jeden Zentimeter meiner Lunge mit Frischluft zu versorgen. Am Eingang zur Station angekommen, fühle ich mich dann auch wieder gut genug, anderen mit einem Lächeln im Gesicht entgegenzutreten. 
Das, was gestern war, ist in meinem Zimmer eingeschlossen und geht niemanden etwas an.
Gegen 1000 Uhr, ein Anruf von der Abteilungsleiterin lässt mir die Knie weich werden, und ich beginne mich zu fragen, welchen Grund es wohl geben könnte, dass ich möglichst gleich zu ihr kommen soll. Mir keiner Schuld oder Vergehens bewusst beruhige ich mich aber schnell wieder und gehe zu ihr.
Freundlich lächelnd aber bestimmt ließ sie mich an einem kleinen, quadratischen Tisch in ihrem Büro Platz nehmen und setzte sich selbst, dabei ihren Blick nicht von mir abwendend, auf einen bereitgestellten Sessel mir gegenüber. Nun begann für mich ein Frage und Antwortspiel, welchem ich nicht gewachsen sein konnte. Mir wurde plötzlich etwas mulmig im Bauch und hätte ich nicht bereits gesessen, wäre ich sicher jetzt umgekippt, denn ich wusste auf einmal, um welchen Grund sich diese Unterhaltung drehen würde. Mir wurde von ihr ganz deutlich klargemacht, dass ich für eine feste Anstellung in ihrer Abteilung nicht tragbar wäre. Auf meine Frage, warum, antwortete sie, das Thema auf den eigentlichen Kern bringend: "...Es wurde mir berichtet, sie seien des öfteren durch eine Alkoholfahne am frühen Morgen aufgefallen, bzw. bereits Alkoholisiert zum Dienst erschienen." Ich war geschockt und zugleich erleichtert. Endlich hatte man mich entdeckt, waren alle Versuche, meine Sucht zu verbergen doch unnütz geblieben. Nun stellte sie mir die entscheidende Frage, von deren Antwort jeder weitere Schritt meines Lebens abhängig sein würde: "Haben Sie eventuell Alkoholprobleme?" Ich überlegte hin und her. Was sollte ich darauf antworten, zumal sie die Antwort doch bereits wusste? Ich war den Tränen nahe. Leise, eher zögerlich, antwortete ich schließlich: "Ja, aber ich weiß nicht, wie ich aus diesem Teufelskreis rauskommen soll." 
Mit dieser Antwort war sie sichtlich zufrieden. Ein kurzes Telefonat mit einem Herrn, der, wie sich anschließend herausstellte, der Suchtberater des Krankenhauses war und der erste Schritt auf einem neuen, mir völlig fremden Weg in die Zukunft war getan." ...

Wie schwer dieser neue Weg für mich dann letztendlich sein würde, konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht vorstellen. Vom 8. bis zum 14. Dezember war ich also im Krankenhaus zur Entgiftung. Dort angekommen wurde mir dann doch etwas mulmig zumute. Wieder fragte ich mich, ob es richtig sei oder ob ich nicht lieber aufgeben solle, wie ich das vor größeren oder auch kleineren Problemen immer getan hatte: "Einfach nicht hingehen, sich irgendwo zurückziehen, für mich ganz alleine sein, eventuell wieder die "Birne" mit Alkohol zuschütten und an nichts anderes mehr denken." - "Nein", sagte ich voll Wut und Verzweiflung zu mir. "Jetzt musst du auch mal etwas durchstehen, du kannst nicht ewig davonlaufen, sei es auch noch so schwer!" Langsam, etwas zögernd noch ging ich also auf die mir am Vortag angewiesene Station. 
Nach zehn Tagen konnte ich die Station wieder verlassen. Ohne Alkohol im Körper, mit vielen Infos zu Selbsthilfegruppen im Kopf, einem Therapieangebot in der Tasche und einer Gesundschreibung in der Hand, so kam ich wieder in das Schwesternwohnheim.
Ich war kaum angekommen, bekam ich einen Anruf vom Personalrat. Mir wurde mitgeteilt, dass die Station, auf der ich arbeitete, die Kündigung eingereicht hatte. Ich war geschockt! "Wofür hatte ich die Qualen, denn solche waren es, der Entgiftung ertragen? Wer versuchte mich hier loszuwerden? Welche Chancen hatte ich noch? Was kann ich jetzt noch tun?" Diese und andere Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Wieder saß ich derweil auf meinem Bett, in mir kochte es vor Wut und ich begann zu heulen. Langsam kam eine Träne nach der anderen die Wangen herunter und es schien als wollten sie mich verbrennen, so weh taten sie. Ich war nicht mehr imstande, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Wieder und wieder fragte ich mich: "Warum?!" Selbst heute weiß ich darauf keine Antwort. Wochen später bekam ich dann den "blauen" Brief, die Kündigung zum 31. März 1994, mit dem ironischen Hinweis, nach einer Therapie würde man eine neue Bewerbung "wohlwollend" beachten. Mit einer unbändigen Wut im Bauch nahm ich die Kündigung an. Am Abend beschloss ich, jetzt gehe ich meinen eigenen Weg. Jetzt, nach jahrelangem verzweifelten Suchen hatte ich die Möglichkeit, auf die ich solange gewartet hatte. Unabhängig von jeglichem beruflichen Zwang konnte ich beginnen meinem inneren ICH gerecht zu werden und gleichzeitig vom Alkohol wegkommen.
Mit diesen Gedanken im Kopf und Bauch begann ich am 4. April 1994 die Entwöhnungstherapie. Diese Therapie fand dann innerhalb Hamburgs, in einem extra dafür geschaffenen "Sozial-Therapeutischen-Zentrum für Suchtabhängige" statt. Es war ein rotes, mit Klinkern versehenes, T-förmig angelegtes, zweistöckiges Gebäude mit einem relativ großen, von Bäumen fast Blickdicht umschlossenen Garten auf der einen Seite und einem Besucherparkplatz auf der anderen. Die Zimmer der "Patienten", mehr im Hinterhaus zum Garten gelegen, waren 15 m2 große Einzelzimmer. Ich kam, natürlich noch als Mann angemeldet, in eine Gruppe von sieben suchtkranken Männern.

Die erste Woche, welche als sogenannte Eingewöhnungszeit galt, war überschattet von Depressionen, Ängsten und ständig wiederkehrenden Fragen nach innerer Klarheit. In meinem Tagebuch stand dazu geschrieben: 

... "Viele Fragen bleiben noch ungelöst, neue traten auf und wurden zurückgestellt. Es war eine Zeit des Zweifelns; an mir selbst, an meinen Eltern, welche sich seit der Entgiftung nicht mehr gemeldet hatten und ein klein wenig auch ein Zweifeln an den Erfolg bzw. den Nutzen einer solchen Therapie für mich. Vor allem aber war dies eine Zeit der Ängste, genauer gesagt der unterdrückten Ängste. Der Ängste, falsche Schritte zu gehen und dabei alles andere aus den Augen zu verlieren. Eigentlich, so sehe ich das für mich, ging ich ganz langsam, tastend fast, einen Schritt vorwärts um anschließend gleich zwei ganz schnell wieder zurückzugehen, auf einem Weg, dessen Ende ich nicht sah und der scheinbar keine Beleuchtung für den Verlauf hatte. Und doch meine ich zu wissen, das gesteckte Ziel mit minimaler Abweichung zu erreichen. Dafür, so scheint mir, ist mein Wille, endlich Klarheit in das Dunkel meiner Sucht und meiner Gedanken zu bringen, so stark, das ein Umkehren für mich nicht in Frage kommt - sei der Weg auch noch so hart und mit noch mehr Steinen und Hürden überseht." ...

Nach diesen ersten Wochen der Eingewöhnung begann ich mich langsam selbst zu erleben. Ich beobachtete mich genauer; meine Bewegungen, Gesten und Gefühle. Fing an, langsam meinem inneren ICH, der inneren Frau, einen Weg nach außen zu öffnen. Hierbei zeigte sich mir noch einmal mit unübertrefflicher Genauigkeit, welchen Berg an Problemen ich in den vergangenen Jahren unaufgearbeitet mit dem Alkohol heruntergespült und damit verdrängt hatte. Es war, als fehlte mir jegliche Verbindung vom inneren Fühlen zum äußeren Spüren. Ich erlebte meinen äußeren männlichen Körper immer stärker als Hülle, in die man mich vor Jahren ungewollt gepresst zu haben schien und den Ausgang vergessen hatte. Einige Tage später konnte ich das erste Mal offen in der Gruppentherapiestunde über diesen inneren Kampf mit dem für mich als falsch verstandenen Körper sprechen und spürte, wie sich etwas in mir dabei befreite. Viele Sachen merkte ich erst jetzt, weil ich plötzlich damit Schwierigkeiten hatte. Ich spürte z.B. mehr als andere, wo alles die Geschlechtszugehörigkeit eine Rolle spielt, weil ich mehr und mehr darunter litt, wenn jemand mich falsch einordnete. All die Jahre vor der Therapie fühlte ich mich derartig von anderen abhängig, dass ich nicht wollte, dass sie erkennen "was mit mir los" war. Irgendwie hoffte ich wohl im Unterbewusstsein darauf, von anderen aus dieser Abhängigkeit befreit zu werden. Und immer war dieser Gedanke da, - dieser Wunsch, eine Frau zu sein. Nur die Furcht vor Ausgrenzungen hat jahrelang verhindert, das aus dem Wunsch Realität wurde. Statt dessen versuchte ich es zu verbergen, irgendwie wegzuspülen. Die Angst, dem Druck vor allem in der Familie nicht standhalten zu können, ließ mich diese lange Zeit zögernd schweigen. Ich hatte einfach Angst vor den Reaktionen meiner Eltern und der Umgebung, weil ich dachte, jeder würde versuchen, mir das irgendwie auszureden!
Also wagte ich diesen Konflikt nur in Abwesenheit, durch einen Brief; auch wenn ich ahnte, dass sie ihn sicherlich nicht lesen würden.
Trotzdem wollte ich um Verzeihung bitten und ihnen erklären, wie gerne ich sie doch habe. Aber auch sagen, dass ich nicht anders handeln konnte, mit dieser ständigen Angst im Rücken, sie endgültig zu verlieren.
Die Reaktion war, wie ich es erwartet hatte. Alle reagieren ja nun mal nicht gleich positiv. Im Gegenteil, beim nächsten Telefonat erklärte meine Mutter: "Solltest du wirklich dein Leben als Frau weiterführen wollen, ist das okay, solange du in Hamburg bleibst, - es ist dein Leben, aber ziehe uns nicht mit hinein! Du weißt, dass dein Vater das nie gutheißen wird." Nach diesem Gespräch entwickelte sich so etwas wie Hassliebe zwischen mir und meinen Eltern. Hass, weil sie nicht verstanden, dass sie mich dadurch aus der Familie warfen und Liebe, weil es ja trotzdem meine Eltern waren. Gut, ich habe es geschafft vom Alkohol und den Medikamenten als Stütze wegzukommen. Wie groß aber der Preis war, der für die Selbsterkenntnis bezahlt werden muss, ist heute jedoch noch nicht abzusehen.
Im Laufe der Therapie war ich dann soweit, dass ich mich als "Frau in einem Männerkörper" erstmals nach außen outete. Dies geschah zunächst zwar nur innerhalb der Therapiegruppe, aber es war ein Anfang. Die Therapeuten waren verblüfft, als sie die wahren Hintergründe meines übermäßigen Alkohol- und Medikamentenmissbrauchs erahnten. Sie waren Teilweise der Ansicht, dass dieser Zustand sich mit der Zeit wieder geben würde, ich müsste es nur wollen.
Die Gruppe reagierte dagegen gelassener, - hatte sie doch mit Mathias bereits jemanden unter sich, der als Schwuler nicht so recht ins Normdenken der Gesellschaft zu passen schien. Welch ein Glück für mich! Die Zeit der Therapie lässt sich wohl am besten beschreiben, wenn ich dafür einige wenige Wochenberichtsaufzeichnungen als Abbild dieser Zeit benutze. Sie zeigen für mein Empfinden am deutlichsten, dass eine Therapie Höhen und Tiefen beinhalten kann:

" ...(16.6.1994) Was war heute mit mir los? Irgendwie war ich den ganzen Tag über nicht ganz da, schien rechts und links neben mir zu stehen. Ich merke innerlich die Hände zittern, der Kopf keinen klaren Gedanken zu fassen vermag, der Bauch alles was er bekommt, wieder herausgeben will und es doch nicht tut. Die Stirn sich irgendwie nicht entscheiden kann, ob sie nun die leichten Kopfschmerzen nach außen durchlassen sollen oder nicht und die Beine scheinbar unbewusst selbständig, nicht spürbar, sich bewegen. Ein Gefühl nur aus Hülle, ohne Innenleben zu existieren! ..."

" ...(21.7.1994) Plötzlich, kurz nach einer der zahlreich stattfindenden Gruppenstunden wusste ich, was ich bisher nur vor mich hergeschoben habe, was ich innerlich nun auch vertreten konnte:
Ich habe die endgültige Entscheidung getroffen - Ich gehe den Weg zur Frau nun auch offiziell. Möge es auch noch so viele Menschen geben, die mich dafür "steinigen" würden, aber ich kann nicht mehr den Mann spielen. ..."

" ...(6.8.1994) Erstmals Besuch von meinen Geschwistern. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, erkläre ich ihnen, das ich für meinen weiteren Weg ihre Hilfe benötigen würde, ihre Akzeptanz und ihr Vertrauen bräuchte. Marco, der ältere, schien verblüfft über die Entscheidung die ich getroffen habe, die Strapazen, des doch sicherlich langen Weges, auf mich zu nehmen. 
Sven, der bereits vorher schon wusste, wie wichtig mir die Meinung der Familie ist, war dagegen mehr damit beschäftigt, zu überlegen, wie die Eltern wohl diesen Entschluss aufnehmen würden, zumal er wusste, wie sehr der Vater sich Vorwürfe macht, nachdem ich bereits einen Brief geschrieben und ihnen versucht hatte zu erklären, was ich vorhatte. Am liebsten hätte ich angefangen zu schreien und zu heulen! Mir wurde klar, was ich mit meiner plumpen Art, einen unpersönlichen Brief zu schreiben, statt das offene Gespräch zu suchen, bei ihnen angerichtet hatte. Oft fragte ich mich: Welchen Mangel vermuteten denn die Eltern bei sich?
Sicher, einen Grossteil meiner Entscheidungen das eigene Leben betreffend, z.B. erhöhter Alkoholgenuss, samstäglicher Gottesdienst usw., empfanden sie als gegen sich gerichtet, als Infragestellung ihrer Erziehung oder ihres eigenen Weltbildes. Sie empfanden mein anders sein oft als Trotzreaktion, sahen nicht, dass es oft aus meinen inneren Bedürfnissen entsprang. Versuchte ich doch zu zeigen, dass ich auch noch "vorhanden" war, innerlich anders als äußerlich zwar, aber vorhanden, - anwesend, wenngleich sie mich oft zu übersehen drohten. ..." 

Im Rückblick auf die Monate der Therapie, fällt es mir unendlich schwer in Worte zu fassen, was scheinbar keine Worte hat. Gefühle zu beschreiben, die wie hinter einer Nebelwand kaum zu erkennen sind. Und doch sind sie da und sie kommen aus dem tiefsten Inneren meines, wie eine Schutzschicht wirkenden, Körpers. Nein, es ist keine Leere mehr, wie noch vor einiger Zeit und doch können menschliche Worte es nicht fassen. Ich weis, dass genau dieses nicht zu fassende Gefühl, jenes ist, vor dem ich jahrelang davonzulaufen versuchte. Mit Drogen wollte ich es verdrängen, mit Alkohol und Medikamenten bekämpfen, mit Unmengen von Kaffee herunterspülen. Und doch war es noch da. Wie ein Mal hing es an und in mir und ließ sich nicht entfernen. Mein Leben, so wie es bisher verlief, erscheint mir im Rückblick darauf wie eine Hülle, umgelegt um zu verbergen, was darunter, tief im Inneren schlummerte. Und wenn es doch zwischendurch aufwachte und mich dadurch, da ich noch nicht bereit war es auszuhalten, mich zu zerreißen drohte, wurde es wieder und wieder mit Alkohol betäubt. Solange, bis die Hülle kaputt und der Körper süchtig war. Das Gefühl war jedoch geblieben. 
Oktober 1994. Mittlerweile aus der Therapie entlassen, und in ein Nachsorgezentrum für alkoholkranke Männer eingezogen, nahm ich nach langen inneren Auseinandersetzungen all meinen Mut zusammen, verdrängte jeden noch so kleinen Rest von Überwindungsangst und ging zur Beratungsstelle für Menschen mit Geschlechtsidentitätsproblemen, in der Hoffnung, dass man mir dort weiterhelfen könne. Wie immer, wenn ich mich vorher mit Ängsten gequält hatte, erlebte ich auch diesmal eine Überraschung. Es zeigte sich im Laufe des Gespräches, dass jegliche Angst überflüssig und nur hinderlich war. Dort hatte ich endlich das Gefühl, verstanden zu werden. Es waren Menschen, die sich auskannten, die selbst Betroffen waren. Klar, es waren harte Monate im Nachsorgezentrum und doch spürte ich, wie die Frau in mir mehr und mehr nach außen drängte, sich befreien wollte. Als ich dort nach ca. zwei Monaten anfing, mich öffentlich zu outen, wurde damit der Wunsch zu einem engagierten Entwurf, aus dem Nichtsein des neuen Geschlechts wurde ein Noch-Nichtsein. 
Aus der Person, die davon träumte, dass andere Geschlecht zu sein, wurde langsam eine Person, die daran engagiert arbeitet, dass andere Geschlecht zu werden. Einen wichtigen Teil dieses "Coming-Out´s" nahm natürlich die Familie ein. Ihnen schrieb ich bereits kurze Zeit nach dem Beginn der Nachsorge. Hier der Inhalt dieses für mich wichtigen Briefes:

"...(15.05.1995) Es mag Euch ungewöhnlich erscheinen, dass ich schreibe. Aber wie so oft im Leben lässt sich nicht alles in einem Telefongespräch klären, was sicher auch dafür gilt, was ich Euch sagen muss, ja sagen will. Fünf Jahre ist es nun fast her, dass ich nach Hamburg gegangen bin. Fünf Jahre und nicht einmal in dieser Zeit habt Ihr Euch scheinbar gefragt, wie es mir abgesehen von Äußerlichkeiten auch innerlich geht. Fünf Jahre, die ich manchmal ungeschehen machen möchte, weil ein großer Teil darin für mich die "Hölle" war. Ja, ich bin tief gestürzt in dieser Zeit, aber ich habe mich auch wieder hoch gerappelt. Heute liege ich in meinem Bett im Nachsorgezentrum, starre an die Decke und frage mich, ob es Euch überhaupt interessiert, wie es mir damit ergeht, Eltern zu haben, denen es scheinbar wichtiger ist, möglichst viel Geld zu verdienen und dadurch immer weniger Zeit zu haben, miteinander (einschließlich der Kinder) zu reden. Ja ich weiß, auch ich habe sicherlich meinen Teil dazu beigetragen, dass in diesen fünf Jahren der Graben zwischen Euch und mir größer statt kleiner wurde. Oder wie soll ich es beschreiben, wenn ein Kind auszieht aus dem Vaterhause um sich selbst zu finden und nach dem dieses Kind sich selbst gefunden hat, nicht mehr den Mut aufbringen kann, den eigenen Eltern in die Augen zu sehen, um Ihnen zu sagen: "Das was ich gefunden habe, bin ich - auch wenn es gänzlich anders ist, als die Person, die damals von Euch gegangen ist. Mama, ich weiß nicht, ob Ihr ermessen könnt, wie viel Tränen ich all die Monate, Wochen, Tage und Nächte innerlich geweint habe, weil ich Angst hatte Euch gänzlich zu verlieren. Auch jetzt, wo ich diesen Brief schreibe, zerbricht es mir fast das Herz und trotzdem kann ich nicht anders. Ich möchte endlich Frieden mit Euch schließen und über diesen Graben eine begehbare Brücke bauen. Denn eines weis ich genau, in die Hölle, in der ich war, möchte ich nicht mehr zurück, denn es würde mich sicher das Leben kosten. Um aber weiter Leben zu können, bedarf es auch eines kleinen Teils Eurer Liebe und Akzeptanz, zu einem Kind, was nicht nur "Kind meiner Eltern" genannt werden möchte. Ich weis, ich verlange Euch unwahrscheinlich viel ab, aber so lange wir nicht miteinander reden können, wird der Graben zwischen uns bestehen bleiben. ..." 


Maraike, eine Frau entsteht

Ziemlich am Ende der Nachsorgetherapie fand ich auch einen realistischen Namen, den ich auch gegenüber Anderen vertreten konnte: MARAIKE. Am Anfang war das echt schlimm. Vor allem weil ich da soviel Energie reinsetzte: Ich heiße Maraike! Ich heiße Maraike! Und kurze Zeit später hörte ich wieder diesen männlichen Namen. Am Telefon ist es besonders auffällig, weil mich mein Gegenüber ja nicht sieht. Zeitweise war es echt zum Heulen. Um die Körperformen und das Erscheinungsbild auf das neue Geschlecht hin zu verändern, begann ich während dieser 6 Monate in der Nachsorgeeinrichtung damit, Hormone zu nehmen, die Genehmigung zur Epilation bei der Krankenkasse zu beantragen, sowie die Anträge für die offizielle Vornamensänderung beim zuständigen Amtsgericht zu stellen. So wurde in dieser Zeit für mich fast alles zum Ausdruck der neuen Geschlechtszugehörigkeit: Kleidung, Haare, Mimik, Gestik oder die Hormoneinnahme und eben auch der Name.
Noch bevor jedoch die Einnahme von Hormonen bzw. ein Bemühen um die OP aber sichtbare Folgen zeitigte, bewirkten diese schon eine Veränderung der Beziehungen zu mir nahestehenden Personen (Freunde, Bekannte, Eltern etc.), da diese sich damit auseinandersetzen mussten, dass ich >> es << wirklich mache. Dabei gab es ganz unterschiedliche Reaktionen. Einige meinten: "Ehrlich ist er / sie ja wenigstens ..." und andere wiederum sagten: "Er scheint den Verstand verloren zu haben. Er gehört in die Psychiatrie!..." und trennten sich ganz von mir. Wieder Andere (jedoch wenige) freuten sich mit mir und halten weiter an unserer Freundschaft fest. Ich hatte es geschafft, konnte anfangen so zu leben, wie ich es immer schon wollte, als Frau. Der erste Schritt in eine neue Zukunft für mich, war damit vollzogen. Nur, dieses ich, früher mal ein Junge gewesen zu sein, das bleibt wohl ewig irgendwo im Grundich enthalten; so wie Glassplitter oder so, die immer wieder anfangen zu pieksen. Ich lernte, langsam aber damit um zu gehen. 
Genau einen Monat später bekam ich dann eine eigene Wohnung. Nicht sehr groß, aber mein. Und am 16. April konnte ich dann offiziell aus dem Wohnheim in die Wohnung ziehen. Nach dem dann alle organisatorischen Dinge erledigt waren, hatte ich auch wieder Zeit, mich um mich zu kümmern. Mehr und mehr entdeckte ich, wie sehr ich damit beschäftigt war, mein Geschlecht darzustellen, wobei andere das Gleiche meistens vollbringen, ohne weiter darüber nach zu denken. Ja, ich sah die Geschlechterwirklichkeit >> mit anderen Augen<<, das Heißt mit Augen, die sehen, wie jeder unentwegt damit beschäftigt ist, sich als Frau oder Mann darzustellen. Vor allem dann, wenn ich mal ausging - ins Café oder so und jemanden kennen lernte. Dann passierte es meistens, dass nichts passierte - einfach nur weil mir sofort bewusst wurde, dass das Teil unten halt immer noch da war. Oft befürchtete ich, dass wenn ich jemandem näher zu tun hatte, wo ich nicht wollte, dass die Person es weis, die Vergangenheit wieder zu Tage treten würde. 
Gut, die kleidungsmässige und gestige Darstellung des Geschlechts gelang überzeugend, begann ich dann aber zu sprechen, fiel ich nicht selten auf die männliche Stufe zurück. Aber auch in meinem Kopf hatte ich manchmal das Gefühl, zwei Personen zu gleich zu sein. So, als stünde ich zwischen zwei Geschlechtern: >>war nicht Fleisch- nicht Fisch<<, Neutrum vielleicht. Ich konnte es einfach nicht verdrängen so sehr ich diesen "Typen" auch verabscheute!

Je mehr die Veränderungen des Körpers sichtbar wurden, desto mehr wurden sie auch ein Zeichen der Einlösung meines Zukunftsversprechens und damit wurde ich auch gegenüber Wissenden glaubhafter und meine Selbsterkenntnis nachvollziehbarer. 
Zwischenzeitlich begann ich wieder zu zweifeln - an mir, an meiner Zukunft, an meiner Umwelt. Oder war es wieder die Angst davor falsche Wege zu gehen bzw. Entscheidungen zu treffen, die nicht wieder rückgängig zu machen sind? 
Ja ich hatte Angst- mehr noch als früher meine Familie zu verlieren und ohnmächtig zuzusehen, wie sie sich von mir abwendete; ich war ja nicht ihr Kind - ihr Kind war ja ein Junge, ich aber bin eine Mädchen! Verzweifelt versuchte ich zu schreien: "was verlangt ihr von mir!" Doch kein Laut durchdrang diese eisige Stille des oft viel zu kleinen Zimmers. Es war als würde ich nur in meinem Inneren schreien! Irgendwie war ich an einem Punkt angekommen, wo ich mich entscheiden musste: habe ich die Kraft dazu, auch ohne die Bindung zur Familie zu haben, als ICH durch das Leben zu gehen? Gelingt es mir, endlich die Nabelschnur zu zerschneiden? Oder bin ich noch so sehr von der Familie abhängig, dass ich mich eher selbst als sie aufgeben würde?
Dann, in der Nachsorge, begann sich auch meine Psyche zu "normalisieren". Hatte ich bisher die Therapie als Mann durchlebt, konnte ich nun beginnen, mein wahres ich zu offenbaren, ich "outete" mich als transsexuelle Frau. Das größte Problem dabei waren, wie schon so oft, meine Eltern. Ihnen in die Augen sehen und ihnen erklären, dass sie nun eine Tochter mehr und dafür einen Sohn weniger hatten, konnte ich noch nicht - brachte es einfach noch nicht fertig. Also schrieb ich, wie schon so oft einen Brief mit folgendem Inhalt:

"... Seither ist viel Zeit ins Land gegangen, sind viele Tränen die Wangen heruntergeflossen. Was früher wahr zu sein schien, ist heute, nach zehn Monaten, überholt; ver- und/oder aufgearbeitet. Die Therapie liegt hinter mir und auch die Nachsorge in Jenfeld ist fast abgeschlossen. Ich fühle mich wohl. Fast! Wenn, ja wenn da nicht die Sache mit meiner Identität wäre. Klar, ich hatte gute und erfahrene Psychologen hier - aber kein Psychologe auf der Welt, kann einem die eigene Familie ersetzen. Nun, seit einigen Monaten, mit Beginn der Nachsorge, arbeitete ich an meiner Sozialisation als Frau. In meiner Umgebung lernt man mich seither nur als Frau kennen und akzeptieren. Fehlte eigentlich nur noch die eigene Familie - ODER? Ich weis, wie schwer es für euch sein muss, das Kind, was ihr als Jungen großgezogen habt, gehen zu lassen und dafür ein zweites Mädchen zu bekommen. Ja, auch ihr müsst euch erst mit diesem Gedanken anfreunden - ich hatte ja lange genug Zeit dafür ( wenn zehn Monate lange genug sind ). Und trotzdem, es ist unumkehrbar - ich kann nicht mehr zurück.
Das traurigste an der ganzen Zeit für mich war, keinen Brief, kein ermunterndes Wort von den eigenen Eltern zu bekommen. Tagtäglich quälten mich die Ängste, wenn ich nicht so lebe, wie man es von mir erwartet - und dieses hieße auch als Junge; würde ich die Familie, die ich liebe, verlieren. Immer wieder fragte ich mich, was mir wichtiger wäre. Bis auf den heutigen Tag, kann ich darauf keine Antwort geben - dazu liebe ich die Familie zu sehr. Aber weiter als Mann leben, das kann ich einfach auch nicht. Ich habe am eigenen Leibe erlebt, wohin das geführt hat - zu Alkohol- und Medikamentenmissbrauch. Habt ihr eventuell eine Lösung? Sagt, wäre es besser gewesen, auch in der neuen Wohnungen als Junge einzuziehen, und dann nur hinter verschlossener Türe zu leben, so wie ich fühle - als Frau? Ich glaube nicht. Denn so wichtig jede offene Diskussion auch ist, so ersetzt sie doch nicht das eigene persönlich Leben. Nur wenn ich auch offen als Frau lebe kann ich als Frau akzeptiert und anerkannt werden. Aber ich weis auch, dass niemand das Recht hat, Bekenntnisse von mir zu fordern. Die Bereitschaft, auch öffentlich ganz ich selbst zu werden, brauchte Zeit - musste einfach reifen; auch in mir. Und es war ein harter Weg, oft versperrt von Steinen und getränkt in Tausenden von Tränen. Aber es ist mein inneres, was mich diesen Weg gehen ließ und mich ständig vorwärts trieb. Gut, ich könnte fliehen - aber auch vor mir selbst? Nein, wohin ich in meinem Leben auch gehen mag, mich nehme ich immer mit - das weis ich jetzt. Ja, ich kann diskriminiert werden, wenn ich mich zeige und ich bin diskriminiert, wenn ich mich weiter verstecken würde - auch zu Hause und in der so geliebten Familie. Aber um offen leben zu können, brauche ich viel Mut - auch heute noch. Ich weis aber auch, dass ich diesen Mut nicht ohne Selbstbewusstsein aufbringen kann. Und um dieses Selbstbewusstsein wieder zu wecken, war die Alkoholentwöhnungstherapie nicht ganz unwichtig. Denn um auch von anderen angenommen zu werden, musste ich erst lernen, mich selber zu akzeptieren. Mama, seit 1981 gilt Transsexualität als anerkannte Krankheit und ich glaube, du kannst erahnen, dass ich es mir nicht ausgesucht habe, so zu sein. Also entschuldige ich mich auch nicht dafür.
Ich musste besonders in letzter Zeit lernen, mich nicht an fremden Normen zu messen und nicht zu weinen über Dinge, die ich nicht kann. Im Gegenteil, ich habe angefangen, langsam Schritt für Schritt meine eigenen Werte zu entwickeln und zu finden. Wer den Sinn des Lebens nur in der Fortpflanzung sieht, kommt sehr leicht auf die Idee, Schwule, Lesben und Transsexuelle seien sinnlos, nutzlos. Für mich besteht der Sinn des Lebens darin, soziale Beziehungen zu gestalten, sei es über Arbeit, über Liebe und über Sexualität. Warum sollte ich dafür nicht auch taugen? Manchmal habe ich Angst, mich zu äußern, da man über die Stimme noch am deutlichsten erkennen kann, als was ich vor Jahren mal geboren wurde. Immer wieder kommt dann die Frage: "Wieso Frau?!" Und ich werde somit indirekt gezwungen, mich zu outen - ob ich es nun will oder nicht.
Aber noch etwas musste ich in den letzten Monaten lernen: Ich kann nur erfahren, zu wie viel Verständnis Verwandte, Bekannte und auch Eltern fähig sind, wenn ich ihnen etwas zu verstehen gebe und mich nicht verstecke - versteckt habe ich mich in meinen Träumen lange genug. Und doch bleibt immer noch die Angst, nicht zu wissen, ob ich nicht vielleicht in offene Messer laufe oder ob es offene Arme sind. Wenn ich mich in meinem Freundinnenkreis so umhöre, welche Reaktionen es in ihren Verwandtenkreisen so gegeben hat bzw. gibt, glaube ich oft zu wissen, wie man / Frau mich behandeln wird. Aber zeigen sich da bei mir nicht auch Vorurteile? Traue ich nicht den anderen zuwenig Menschlichkeit zu, solange ich glaube, man würde mich verjagen, wenn man wüsste, wer ich bin? Und doch zieht mich etwas, ich weis noch nicht genau was, immer wieder zu Euch, zur Familie, zu Freunden und Bekannten. Aber nur durch Offenheit können Beziehungen geklärt werden, was im Einzelfall halt auch heißen kann: beendet. Lange, sehr lange, habe ich damit gewartet, euch diesen Brief zu schreiben, aber ich wollte mich von niemandem gedrängt fühlen und mir meiner Sache möglichst 100%ig sicher sein. Nun, da es für mich kein zurück mehr gibt, nach mehreren Hormonspritzen und beantragter Vornamensänderung beim Amtsgericht, kann ich nicht mehr anders als mich offen zu outen und mich nicht mehr vor Euch zu verleugnen.
Den meisten bringt solche Offenheit Befreiung, Akzeptanz und Solidarität, anderen mildernde Umstände ( "ehrlich ist er/sie ja wenigstens ..." ) und einigen bringt diese Offenheit wiederum die Hölle ( "Der scheint den Verstand verloren zu haben. Er gehört in die Psychiatrie! ..." ). Sicher, den eigenen Weg im Leben zu finden und zu gehen gelingt wenigen und keiner schafft es alle seine Träume und Ideale zu verwirklichen. Nicht nur zu tun, was andere wollen, sondern jenes zu versuchen, was ich selbst, von innen heraus, will, bringt selten nur Beifall und Lob. Nun ja, ich bin mit ziemlicher Sicherheit ein wenig anders, als die Pläne, die ihr für mich hattet. Oder? Aber wie ihr immer zu sagen pflegtet, ich bin selbst verantwortlich für meine Biographie. Leider musste ich erst arge tief fallen, um den wahren Sinn dieser Worte zu erkennen. Es kann lange dauern, bis ich meinen Platz gefunden habe, ehe ich Menschen begegne, die ich lieben kann und die mich lieben und - ich kann scheitern. Aber soll ich deshalb aufgeben? Nein, denn dann wären die vergangenen Monate der Mühe und der Zeit umsonst! ..."

In dieser Zeit warf ich die für mich wohl größte mich umgebende Mauer um: Alles was mich in meiner Kleiderordnung an einen Mann erinnerte wurde von heute auf morgen rigoros entfernt und durch neue, feminine Frauenkleidung ersetzt.

2. Teil

Lesbisch / Transsexuell

Ein nettes Mädchen, dachte ich und spürte dabei in mir ein seltsames Aufgewühltsein. Ich befürchtete, dass wenn ich mit ihr näher zu tun hätte, wo ich doch nicht wollte das sie "es" weiss, die Vergangenheit zu Tage tritt. Aber ich musste eingestehen, sie war mein Typ. Schließlich stellte ich fest, das meine Gedanken und Gefühle sich nur um dieses Mädchen drehten. Daraus schlussfolgerte ich, das ich mich tatsächlich etwas verguckt hatte. Das 1. Mal nach langer Zeit so richtig verguckt - und dies in ein Mädchen! Ich konnte es nicht ganz fassen. Viele Jahre konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich als transsexuelle Frau auch weiterhin Frauen lieben würde. Auch ich glaubte, dass es nur eines von beiden gibt: Als Mann eine Frau lieben sei normal; aber als Frau in einem männlichen Körper - und dann noch Frauen lieben, das ginge nicht - sei nicht normal, sei unmöglich! War ich doch durch meine recht konservative Erziehung der Meinung, dass sich nach dem Wechsel nun auch die sexuelle Ausrichtung ändern müsse. Aber ich bemerkte, dass wieder eine Lücke in meinem Herzen gefüllt werden sollte. Wochenlang hatte ich nur ihr Bild um Kopf. Da wir uns immer seltener sahen, verblasste es dann mit der Zeit und das Gefühl von Flugzeugen im Bauch wurde weniger.
Doch diese Gefühle kommen immer wieder, wenn ich 'Frauen sah, egal wo - ob im Kino, im TV, auf der Strasse, in der U-Bahn, immer waren sie es, die mich anzogen, nicht die Männer. Und so paradox es klingen mag, sie zogen mich an, als Frau - auch wenn ich äußerlich noch keine "richtige" Frau bin, vielleicht nie sein werde; so bin ich es doch innerlich (in meinen Gefühlen und Gedanken) seit ich ein kleines Kind war. Jahrelang hatte ich versucht, auch diese Gefühle zu verdrängen. Habe versucht, als Junge, als der ich nun mal geboren wurde, zu leben. Doch die Qualen, die ich innerlich in dieser Zeit durchlitt, sah und ahnte niemand. Ich suchte nach jemandem, der sich in mir einfühlen konnte, der fühlt wie ich und plötzlich wusste ich, dies konnte nur eine Frau sein. Und doch traute ich mich nicht, diese Wünsche jemandem zu offenbaren. Also begann ich zu sortieren: was ist mein Ziel? Welches sind die ersten Schritte dorthin? Wo fange ich an? 
Im Geheimen hoffte ich, dass jemand mir ansehe was ich dachte und mich darauf anspreche und so diesen Part übernehmen würde, was jedoch nicht geschah. Denn wer war ich schon - äußerlich noch immer ein Mann und nur innerlich die Frau, die ich einmal sein würde. Ich hatte also mit zwei Problemen gleichzeitig zu kämpfen:

1. mit der äußerlichen "Hülle"; die ich war und welche ich mehr und mehr zu hassen begann. Obschon mit Beginn der Hormoneinnahme leichte Veränderungen einsetzten, war doch dieser Mann noch sicht- und fühlbar.

2. mit meinen inneren Gefühlen, Frauen gegenüber. 

Ich entschloss mich, so weit es mit bewusst möglich war, erst einmal alles was mit meinem sexuellen Verlangen zu tun hatte, möglichst weit und lange, zu verdrängen. Versuchte, ein nach außen hin "normales" Leben zu führen, wie nur irgendwie möglich. Angepasst und unauffällig. Und doch war es immer nur ein "Sieg" auf Zeit, ein langer, schleichender und unaufhaltsamer Prozess - über mehrere Monate hinweg. Mehr und mehr versuchte ich also zuerst, diesen ungewollten und ungeliebten "Mann" zu verstecken. Legte Make-up auf, malte meine Lippen an und ließ mir einen neuen, weiblichen Haarschnitt verpassen. Gleichzeitig setzte ich all meine Energien daran, die Veränderung des Äußerlichen sichtbaren "Mannes" zu forcieren. Die optischen Veränderungen blieben natürlich nicht unbemerkt. Plötzlich kamen mir Meinungen entgegen, mit denen ich nicht gerechnet habe: das ist doch nur ein verkleideter Mann `oder, `wie kann sie sich nur so auftakeln `usw.. Erst Monate später wurde mir bewusst, dass Schönheit, wie ich sie verstand, nur von innen heraus kommen konnte. 
Und auch der innere Druck, mich endlich zu meiner Neigung, lesbisch leben und lieben zu wollen und mich offen nach außen dazu zu bekennen, ließ nicht nach. - ließ sich nicht, völlig ganz und gar, verdrängen. Kam immer wieder hoch, wurde größer und unverträglicher. Irgendwann würde es aus mir herausbrechen. Ich musste mir jemanden reden. Und das möglichst schnell. Ich wusste noch aus der Therapiezeit, wenn ich Probleme nur allein versuchte, zu lösen, würde ich zu irgendeinem Zeitpunkt daran zerbrechen. Diese Erfahrung hatte ich früher schön des öfteren machen müssen. Und ich wollte sie nicht noch einmal durchleben. Aber mit wem konnte ich darüber reden? Zu wen hätte ich da nötige Vertrauen? Wer würde mich ernst nehmen? Wer könnte mir weiterhelfen, ohne mich dabei zu verletzen oder vorher zu outen? Fragen über Fragen tauchten aus dem Dunkeln meiner Gedanken auf. Ich wusste nicht weiter. Nach Wochen quälender Fragen und Gedanken, entschied ich mich für die, mich auch schon während der Alkoholtherapie betreuende Sozialpädagogin. Ihr gegenüber konnte ich mich öffnen, bei einem Mann wäre dieses wahrscheinlich problematischer gewesen. Außerdem wusste ich, dass sie ebenfalls an die Schweigepflicht gebunden war. Aber dies war nicht alles, was ich unternahm, um endlich mit meiner Neigung leben zu lernen. So suchte ich z. B. alle mir zugänglichen Informationsquellen nach Berichten gleicher Problematik ab; Bücher, Filme und Zeitschriften. Sog sie auf wie ein Schwamm. Aber was ich fand, war sehr dürftig. Es beschränkte sich fast ausschließlich auf lesbische ODER transsexuelle Informationen. Ich fand keine Berichte über die Verbindung beider Anlagen. `Sollte ich die einzige Person sein, die nach ihrem Geschlechtswechsel mit einer Frau zusammen sein möchte? `
Ich konnte und wollte es einfach nicht glauben, dennoch verlor ich nicht den Mut, meinen "selbst" gewählten Weg weiterzugehen. Es bestärkte eher mein Selbstwertgefühl und gleichzeitig irgendwo den Wunsch, diese Lücke im Netz irgendwann einmal schließen zu wollen. Die Zeit lief und mit ihr die Sehnsucht nach einer Partnerin - sie wuchs und wurde größer; gleichzeitig stellte ich jedoch auch fest, wie unerfahren ich damit war, wenn es darum ging, mit Blickkontakten umzugehen; selbst dann, wenn die betreffende Person mir direkt gegenübersaß, direkt in die Augen sah - ich sass da, ich wusste nicht weiter - wurde statt dessen rot, unruhig und, ja begann zu flüchten. 
Nicht immer offen sichtbar!
Aber, und welche Frau würde dieses nicht spüren, immer wieder innerlich. Denn welche Frau vermag mit der Wirklichkeit zu leben, die durch mich ihren Ausdruck findet, noch unfertig in der Psychischen Angleichung an das innere Geschlecht; vermag sie zu warten, mich zu begleiten, diese Wirklichkeit überhaupt zu ertragen?
Und dort begannen die inneren Vorwürfe, das Herz drohte zu zerreißen und ich wollte alles wegwerfen, nur um nicht spüren zu müssen, das ich nun mal nicht 100%ig Frau bin und sicher nie sein werde!
August 1995: Ich saß vor dem Fernseher, sah mir einen Film über eine Schriftstellerin und ihrer Beziehung zu ihren Eltern an - und plötzlich beginne ich wie aus unstillbaren Wassern zu weinen. Warum? Nun, die Art und Weise, und nicht zuletzt die Hauptrolle selbst, der Mutter in diesem Film, ließ mich unweigerlich an meine eigene Vergangenheit erinnern: Diese Sehnsucht zu meinen Eltern, welche ich wieder und wieder zu unterdrücken versucht hatte, brach plötzlich wieder hervor. Also setzte ich mich ans Telefon und bat darum, das meine Geschwister ( wenn schon nicht die Eltern ) vorbeikämen und sich ein Bild von mir machten, damit endlich dieser unüberwindbar scheinende Graben innerhalb der Familie überbrückbar gemacht würde.
Und tatsächlich, das kaum geglaubte wurde war: Am Samstag den 9. September standen sie vor der Türe. Zwei meiner Geschwister zwar nur, aber es war ein Anfang. Nach ausführlichen Fragen betreff äußerlicher Kleinigkeiten, begannen sie zu erkennen, dass sich mit meinem Äußeren auch die Person an sich gewandelt hatte. Sie versuchten zu verstehen, dass sie nun eine Schwester mehr und einen Bruder weniger hatten. Das Eis war aufgebrochen, oder anders, die erste Bohle für eine neue Brücke war gelegt. 


Coming-Out

'Vor kurzem, mir war, als sah ich ein Mädel in einem meiner häufiger werdenden Traumgedanken, mit kurzem gefärbten Haar. Das Gesicht dem meinen glich; nur schien es jünger noch als meines zu sein. Und auch die Kleidung war der meinen gleich und doch war ich es nicht. Sie war nicht allein - mit einem anderen Mädchen sah ich sie im Tanz vereint.'
Am nächsten Tage waren diese Gedanken immer noch in meinem Kopf. Ich fragte mich, was dieser Traum mir sagen wollte. 
Waren es nur die unerfüllten Wünsche einer alleinlebenden nach Zweisamkeit oder zeigte er mir bereits die Schatten sich nähernder Ereignisse voraus? Ich wusste es nicht und besann mich darauf, die Zeit für sich sprechen zu lassen. Kurz darauf, ich war wieder in der Frauen- und Lesbendisco, hatte ich scheinbar plötzlich den Mut mich offen für jemanden zu interessieren. Alle mir aufgesetzten Normen und Zweifel am Erfolg außer Acht lassend, nahm ich von der Tanzfläche aus Kontakt auf. Sicher, sie hatte mich verstanden, auch ohne Worte - den Blicke sagen oft mehr als diese aus. Doch aus Angst vor Ungewissheit voreinander, trennten sich plötzlich dann unsere Wege - nach zu vielen Blicken und zu wenigen Worten. Sie ging und ich verstand nicht warum. Ein anschließendes Gespräch mit anderen, "offeneren" Frauen / Lesben zeigte mir die eigene Unzugänglichkeit meiner Person, öffnete mir die Augen: Die Stimme so rau wie die eines Mannes, der Busen fast unscheinbar noch, waren offenbare Gründe für die Flucht des begehrten Objekts nach vorn. Aber auch das ewige sich erklären müssen nahm mir den Mut zum Handeln und ließ mich einsam sitzend zurück - am Rande der sich im Tanze schwingenden, drehenden Gesellschaft von Frauen, die ich begehrlich suchte. Von den Frauen als ihresgleichen angenommen zu werden, war mir wichtiger, als die Wahrnehmung meiner als Frau durch Männer.
Je öfter ich Sonntags in die Disco ging, desto mehr begann ich zu erkennen, dass Frau fühlen und Frau sein, bei mir noch Kilometerweit entfernt voneinander waren. Also ging ich am Freitag danach zu Hein und Fiete, der Infozentrale für Homosexuelle, um Adressen von Psychologinnen zu erfragen, denn ich verspürte, dass ich mit meinen Gefühlen für Frauen nicht bzw. nicht mehr umgehen konnte. Plötzlich sind längst abgebaut geglaubte Gedanken und Gefühle wieder da: Den Körper mit allem mich als Ex-Mann identifizierenden Eigenschaften und Merkmalen gewaltsam zu zerstören. Und doch, hielt mich wieder einmal nur die Furcht vor Schmerzen davor zurück. Wer ist in der Lage mir weiterzuhelfen? Nach langem herumtelefonieren fand ich endlich eine Psychologin die mir zusagte mit mir arbeiten zu wollen. Doch bis zum ersten Termin vergingen noch einig Wochen. In dieser Zeit, versuchte ich die ersten Schritte aus eigener Hand bzw. mit eigenen Füssen zu gehen. Die erste Möglichkeit, Lesbendisco im MHC. Und, trotzdem ich ein bereits bekanntes kribbeln in der Magengegend verspürte, ging ich nach einigem Zögern hin. Dieser zweite Besuch, der monatlich stattfindenden Lesbendisco, brachte dann auch etwas Farbe und Abwechslung in meiner mich scheinbar erdrücken wollende Einsamkeit. Nach stunden langem Solotanz, gesellte sich dann doch jemand zu mir. Ohne Worte kamen wir uns dann tanzend schnell näher. Was mich im nachhinein wundert, ist die Tatsache, dass ich mich diesmal ohne >Probleme auf einen Flirt einlassen konnte. 
Irgend etwas war passiert! Ein Funken war übergesprungen und hatte alle negativen Gedanken außer Kraft gesetzt. Und kommen musste, kam prompt! Nach einigen heftigen "verliebten" Blicken und anschließendem heißen Küssen gingen wir gemeinsam am Ende der Veranstaltung zu ihr. Auf halben Wege, kamen dann doch bei uns Beiden einige Zweifel auf, ob was wir taten richtig wäre, bzw. ob beide mit der meinerseits doch noch vorhandenen "Männlichkeit" umgehen könnten oder diese eine gemeinsame Nacht ausschließen würde. 
Doch nach langem Überlegen und einigen Tränen, ergriff sie meine Hand und das Wort: "komm; sagte sie; lass es uns versuchen!"
Genau das taten wir dann auch. Und aus einem Flirt wurde so die erste Nacht. Losgelöst von allen uns umgebenden Problemen, war sie die erste Frau, die es fertigbrachte, das ich mich endlich einmal so richtig fallen lassen konnte und mich als Frau aufgefangen wusste. Ich fühlte mich im siebten Himmel. Die erste Nacht mit einer Frau nach etlichen Jahren der Einsamkeit hatte begonnen. Endlich konnte ich auch nach außen anfangen zu leben.
Nach einer wunderschönen Nacht entschied ich mich dafür, ihr nur meine Telefonnummer und Adresse zu geben, da ich befürchtete sonst fast täglich bei ihr anzurufen. So konnte ich sicher sein, 
1. nicht zu bindend zu sein, und 
2. ihr genügend Zeit zu geben, sich zu entscheiden, auf eine körperlich noch nicht vollständige Frau und Lesbe einzulassen oder nicht.
Ich wusste einfach, das sie damit Schwierigkeiten haben würde und sicher viel Zeit brauchen würde, sich zu entscheiden. Natürlich war ich mir nicht sicher, aber über diese eigene Unsicherheit musste ich einfach hinweggehen, um sie nicht zu drängen und / oder zu überfordern. Ja, auch für mich war dies eine Prüfung, eine Prüfung der eigenen Geduld und der eigenen Grenzen. Aber es musste einfach sein. Das diese Zeit schwer, ja sehr schwer, für mich sein würde, merkte ich schon nach ca. einer Woche. Ich hielt es fast nicht mehr aus: kein Anruf, keine Karte - nichts dergleichen von ihr. Und ich konnte nichts tun, hatte mich Quasi selbst zum Nichtstun verdammt. Aber ich wollte durchhalten, unter allen Bedingungen durchhalten. Nach weiteren drei Wochen, war ich jedoch Seelisch soweit am Boden, dass ich aufgab. Aufgeben musste! Ich entschloss mich, sie aus meinen Gedanken zu verdrängen, was mir irgendwann auch gelang, da das Bild, welches ich von ihr ja nur im Kopf hatte, zu bröseln begann. 
Manchmal, wenn ich abends im Bett liege; die Musik im Hintergrund leise spielend, wie ein spiritueller Erweiterungsmechanismus für die Gedanken den Blick öffnen, glaube ich zu erahnen, welche Möglichkeiten mir ein Leben weiter als Mann vorenthalten hätte, wäre ich nicht irgendwann aus meinem "inneren Schlaf" erwacht und als Lesbe ans Licht des Tages getreten.
All die Gedanken, all die Gefühle, schon als Kind in die Wiege gelegt, finden jetzt erst Wege und Worte der Äußerung in eine Welt, welcher die Spiritualität des Denkens abhanden gekommen zu sein scheint. 
Ja, ich bin eine Lesbe, mit einer Vergangenheit, welche für die meisten von uns unmöglich erscheint. Und doch sehe ich keinen Grund, diese zu Verdrängen, zu Leugnen oder gar eine neue Vergangenheit zu korrigieren, nur um in die von anderen gemachten Schubladen des Denken und Fühlen hineinzupassen. Wer will mir denn vorschreiben, wie ich zu leben, denken und fühlen habe? Ist es nicht Hochmut, anzunehmen, uns Frauen, die wir "leider" als Männer geboren wurden, stünde dieser Weg nicht ebenso weit offen, wie den Frauen, die das "Glück" hatten, auch als solche Geboren zu werden? Ist es wirklich nur dieser sogenannte "kleine körperliche Unterschied", welcher solch eine unüberwindliche Schranke in den Gedanken zu errichten vermag? Ist es nicht vielmehr die Macht des männlichen Patriarchats, welche uns wieder und wieder vorzuschreiben versucht, wie unsere Rolle in der Gesellschaft auszusehen hat? 

15.3.1996 13:24



Epilog


Nach Jahren des Kampfes mit den Behörden, ihrer Krankenkasse, den Gutachtern, ihrem Selbstbildnis und der damit verbundenen Zweifel an sich selbst, wobei sie tiefste Abgründe durchleben musste, erblickte sie am 28.06.1996 als "Mädchen" die Welt in Lausanne. Ein Traum wurde Wahrheit, sie war nun endlich auch körperlich eine Frau geworden. Aufgrund ihrer Krankheit dauerte ihr neues Leben als Frau nur 6 Monate, denn unsere Tochter, Schwester und kleine Freundin verließ uns am 29.12.1996 um 13.45 Uhr.

Ich danke all ihren Freunden, ihren Eltern und Geschwistern dafür, dass sie ihr in den letzten Stunden ihres Lebens als Frau, all ihre Liebe und Zuwendung zu teil haben werden lassen, welche sie sich immer gewünscht hatte. Wir geben deine Seele frei, aber unsere Gedanken bleiben bei DIR!!!!!

  Ina-Nora Teetzen