Die Zehn Gebote

Predigt zu 2. Mose 20,1-17 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 14. Oktober 2001, 18. Sonntag nach Trinitatis


Als Predigttext für heute sind die Zehn Gebote aus dem 2. Buch Mose vorgeschlagen.

Wenige Texte aus der Bibel sind so bekannt wie einige der Zehn Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen. Aber das ist eine sehr einseitige Auswahl, fast eine verfälschende. Auch die Bezeichnung als "Zehn Gebote" trifft nicht gut. Wir werden uns auf eine ganz andere Sicht einlassen müssen.

Vielleicht haben Sie auch den Anfang in Erinnerung: Ich bin der HERR, dein Gott. Das klingt herrisch, das ist ein Anspruch, da fällt einer mit der Tür ins Haus. Das ist aber eine späte Lesart, bei Juden und dann bei Christen. In der Hebräischen Bibel lautet der Anfang "Ich bin Jahwe, dein Gott." Gott stellt sich mit seinen Namen vor. Das ist viel heller. Das will Vertrauen wecken.

Zur Erinnerung: Dieser Eigenname lautet etwa "Ich bin, der ich bin" oder "Ich werde sein, der ich sein werde" und zugleich "Ich bin bei euch". Gott, der sich hier vorstellt, ist keine anonyme Macht, er will uns Menschen ein Gegenüber, ja ein Partner sein, und wir sollen aufmerksam mitgehen mit ihm (Micha 6,8). Er hat einen Bund mit seinem Volk geschlossen. "Ich bin" und "du sollst" oder, wie manche übersetzen, "du wirst", das sind Stücke in einer Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Womit hat diese Beziehung begonnen?

Ich bin Jahwe, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Dieser Satz besagt: Ich bin dein Gott, der dich befreit hat, befreit aus der Sklaverei in Ägypten und aus jeder anderen Abhängigkeit, von Angst, Furcht, Verzagen, Minderwertigkeitskomplexen, Einsamkeit. Das ist frohe Botschaft, ist Evangelium. Von diesem ersten Wort her, von der Befreiung her, sind die Gebote und Verbote zu erschließen.

Gott befiehlt nicht, sondern er wirbt um sein Volk, er will den Menschen helfen, damit ihr Leben gelinge. Die Juden bezeichnen die Zehn Gebote nicht als Gebote oder gar Befehle, sondern als Weisung, als Wegweisung, also als Anleitung und Hilfe zu einem befreiten Leben.

Jeder Jude soll die Befreiung aus Ägypten als seine eigene betrachten, als wäre er selbst aus Ägypten befreit worden. Leider ist bei den Christen bald nach Paulus diese Tradition abgerissen. Christen haben die Erinnerung an diese Befreiung weggelassen. Erst dadurch konnte man die Gebote als Kommandos missverstehen.

Da Gott zu uns sagt "Ich bin dein Gott", dürfen wir "mein Gott" zu ihm sagen und auch "Unser Vater". Mit dieser Zuwendung können wir die Gebote als Geschenk verstehen.

Ich lese aus dem 2. Buch Mose den Anfang von Kapitel 20.

Und Gott redete alle diese Worte:
Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
(1) Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
(2) Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
(3) Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.
(4) Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
(5) Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
(6) Du sollst nicht töten.
(7) Du sollst nicht ehebrechen.
(8) Du sollst nicht stehlen.
(9) Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
(10) Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

-- Gott redete alle diese Worte. Nur zwei der zehn Worte sind wirklich Gebote, den Feiertag heiligen und die Eltern ehren. Dazu gibt es acht Verbote. Vordergründig sieht das aus wie eine Verbotsmoral, wie bloße Forderung. Man muss das Alte Testament genauer lesen, um diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen und den Sinn der Gebote zu verstehen.

Luther hat in seinem Kleinen Katechismus die Verbote dahin gewendet, dass wir den Mitmenschen Gutes tun sollen. Damit führt er das aus, was im Alten Testament angelegt ist.

Wir haben zu Beginn aus dem Gesangbuch (EG 702) den Psalm 1 miteinander gebetet, er spricht von der "Lust am Gesetz des Herrn". "Gesetz" bezeichnet im weiteren Sinne die fünf Bücher Mose, im engeren Sinne das, was wir Christen die Zehn Gebote nennen. Die Juden feiern sogar ein Fest der Gesetzesfreude. Dabei danken sie Gott für die Wegweisung.

Auch der Heidelberger Katechismus ordnet die Zehn Gebote in die Rubrik "Von der Dankbarkeit" ein. Damit trifft er ihre Funktion genau: Aus Dankbarkeit ehren wir Gott und tun unseren Mitmenschen nichts Böses, sondern Gutes.

Lassen Sie mich zu jedem der Zehn Worte kurz etwas sagen. Ich benutze hier die Zählung der reformierten Kirche, die nahe an der jüdischen Zählung ist.

-- Das erste Gebot: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Hier ist das Wort "Gott" kein Eigenname, sondern ein Gattungsbegriff: Es gibt viele Götter, und die hebräische Bibel unterstellt an vielen Stellen ganz selbstverständlich, dass andere Völker andere Götter haben. Deshalb konnte Luther sagen: Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott. In diesem Sinne gibt es auch heute viele Götter, bedeutende Götter, das Geld, die Macht, die Karriere, eine Sucht, die Bequemlichkeit.

-- Das zweite Gebot: Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen ..: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Für Christen gibt es wohl keine Gefahr, dass wir handgefertigte Bildnisse anbeten. Deshalb hat Luther dieses Verbot in seinem Kleinen Katechismus einfach weggelassen. Es bleibt die Aufforderung, das eigene Bild von Gott oder vom Mitmenschen, das vielleicht unvermeidlich ist, immer wieder zu prüfen. Alle unsere theologischen Aussagen, und seien sie kirchlich noch so hoch und amtlich bestätigt, können nur Annäherungen sein.

Jede und jeder von uns macht sich ein Gottesbild. In jeder Schrift der Bibel kommt uns ein Gottesbild entgegen. In den frühen Kriegsliedern des Alten Testaments ist Gott ein Heerführer, und fünfhundert Jahre später schreibt Jesaja vom leidenden Gottesknecht. Jede und jeder von uns macht sich ein Bild von Gott, und auch dieses Bild wandelt sich. Dies Gebot sagt auch: Wir sollen unser Bild von Gott nicht mit Gott verwechseln.

-- Das dritte Gebot: Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht. Auch hier steht im Urtext wieder der Eigenname Jahwe und nicht "der Herr". Das Volk Israel kannte den Namen seines Gottes und war stolz darauf. Um den Namen sicher nicht zu missbrauchen, haben Juden ihn gar nicht mehr ausgesprochen. Beim Vorlesen sagten sie statt des Eigennamens nur "der Herr". Gott stellt sich mit seinem Namen vor und sucht die Nähe. Aber Menschen nehmen dies Gebot zum Anlass, auf Distanz zu gehen.

Wie kann man einen Namen missbrauchen? Wer den Namen einer Macht kennt, kann versucht sein, diese Macht zu beschwören. Davor warnt dieses Gebot. Wir können uns Gott nicht dienstbar machen, auch wenn das immer wieder versucht wird. Es muss nicht gleich so krass sein wie ein Koppelschloss mit der Aufschrift "Gott mit uns". Wir sollen Gott und seinem Wort vertrauen, nicht ihn für unsere Zwecke nutzbar machen.

-- Das vierte Gebot: Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage [...] sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.

Dieses Gebot ist das Scharnier zwischen den vorangehenden Geboten, die unser Verhältnis zu Gott ansprechen, und den nachfolgenden Geboten, die unser Verhältnis zu den Mitmenschen ansprechen. Es spricht beide Beziehungen an, will vor allem die Ehre Gottes, aber auch die Schonung der Mitmenschen, das befreite Dasein, das Aufatmen alles Geschaffenen.

-- Das fünfte Gebot: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren [...]. Dies Gebot ist nicht an Kinder gerichtet, sondern an die Erwachsenen. Es verlangt nicht, die Eltern zu lieben, nur, sie zu ehren. Jesus Sirach schreibt (3,14f): Nimm dich deines Vaters im Alter an, und betrübe ihn ja nicht, solange er lebt; und habe Nachsicht mit ihm, selbst wenn er kindisch wird, und verachte ihn nicht im Gefühl deiner Kraft. Dies Gebot ist so aktuell wie je, jetzt, wo bei uns die Menschen immer höheres Alter erreichen. Man spricht von gefährlicher Pflege, und man schätzt, dass in Deutschland nur die Hälfte der Tötungsdelikte überhaupt erkannt wird. Umgekehrt pflegen viele, meist Frauen, ihre Eltern unter großen Opfern, und viele Altenpflegerinnen in Heimen befolgen dies Gebot stellvertretend.

-- Das sechste Gebot: Du sollst nicht töten. Das Wort steht hier für das private Töten eines Menschen durch einen Mitmenschen, ob mit Vorsatz, im Affekt oder grob fahrlässig. Nicht mit gemeint sind hier das Töten im Krieg, die Todesstrafe und gar das Töten von Tieren. Mit gemeint ist aber: Du sollst das Leben deiner Mitmenschen fördern.

-- Das siebte Gebot: Du sollst nicht ehebrechen, das betrifft hauptsächlich das Fremdgehen eines Ehepartners und das Einbrechen in eine fremde Ehe. Dies Gebot schützt also vor allem den Hausfrieden und das Gemeinschaftsleben. Leider haben Christen daraus eine überstrenge Sexualmoral gemacht, bis hin zu Leibfeindlichkeit und Verklemmung. Daran werden wir und die nachfolgenden Generationen noch lange zu leiden haben, an dieser verfehlten Moral ebenso wie an den Folgen des Pendelausschlags zum Gegenteil, am Verlust der Ehrfurcht vor dem Geschlechtlichen.

-- Das achte Gebot: Du sollst nicht stehlen. Zu kaum einem anderen Gebot erfinden wir so viele Ausreden für kleine oder nicht so kleine Verstöße.

-- Das neunte Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Ursprünglich wird sich das auf die Aussage vor Gericht bezogen haben. Aber es ist viel mehr darin. Martin Luther erklärt das so: Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.

-- Das zehnte Gebot: "Du sollst nicht begehren ...": Im 2. Buch Mose wird die Frau unter den Gütern aufgeführt, die zum Haus des Mannes gehören. Im 5. Buch Mose (5,21) ist eine deutliche Weiterentwicklung erkennbar. Dort steht: "Du sollst nicht trachten nach der Frau deines Nächsten. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was sein ist." Hier wird eine eigenständige Rolle der Frau festgestellt neben dem Mann, der für die ganze Hausgemeinschaft verantwortlich war. Diese Änderung im Text war den wirklichen Zuständen weit voraus, aber das gilt ja für alle Gebote, auch heute noch.

-- Vielleicht haben meine Bemerkungen zu den Zehn Worten Sie eher ermüdet als erfreut. Was im Grunde klar ist, braucht kaum eine Auslegung. Weil sie so klar sind, haben die Verfasser und Redakteure der Bücher Mose sie als unmittelbares Wort Gottes bezeichnet.

Es gibt seit einigen Jahren ein Gespräch zwischen den Religionen über die Frage: Können wir uns auf Normen einigen, die alle Menschen aus ihren Religionen heraus bejahen können? Gibt es ein Weltethos, das alle verbindet?

Diese Frage ist besonders aktuell geworden durch die Attentate in New York und Washington. Täter nehmen den Islam zum Vorwand, um ihre Hassverbrechen zu begründen. Auch in Nordirland dient die Religion als Aufhänger für Hass.

In Palästina wie in Nordirland sind Macht und Reichtum sehr ungleich verteilt. Die einen sind reich und mächtig, die anderen arm und ohnmächtig. Das rechtfertigt keinen Hass, aber das ist eine starke Ursache für Hass.

Die Weisung im Alten Testament ist von den frühesten Schriften an eine Weisung zur Gerechtigkeit unter den Menschen. Dazu ist es nötig, anderen Gutes zu tun, und dazu rufen die Zehn Worte auf.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten