Der zwölfjährige Jesus im Tempel

Predigt über Lukas 2,41-52 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 5. Januar 2003, Zweiter Sonntag nach dem Christfest


Der Predigttext für heute steht bei Lukas im zweiten Kapitel (41-52).

Jesus sagt: Wißt ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist? Diese Frage ist das erste Wort, das Jesus im Evangelium des Lukas spricht. Vielleicht ist es so etwas wie ein Wahlspruch, den Lukas über das Leben Jesu stellt. Lukas entfaltet dieses Motto in seiner Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Er betont in dieser Erzählung die besondere Verbindung Jesu mit Gott.

Ich sagte gerade "Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel". Die Geschichten über Jesus in den Evangelien sind keine historischen Berichte, keine Protokolle. Sie sind aber auch keine Legenden, welche die Wahrheit einer Idee untermalen sollen. Sie haben äußerlich die Form von Erzählungen, manchmal auch von Legenden. Sie machen anschaulich, was sich zwischen Gott und den Menschen ereignet hat: Gott blieb nicht als ferner Herrscher jenseits der Welt, sondern er wurde reale Gegenwart in der Welt und will reale Gegenwart auch in Ihrem und in meinem Leben werden.

Gehen wir diese Erzählung des Lukas-Evangeliums der Reihe nach durch.

Die Eltern Jesu, Maria und Josef, gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Diese Wallfahrt war vorgeschrieben für diejenigen Juden, die höchstens eine Tagesreise von Jerusalem entfernt wohnten. Von Nazareth nach Jerusalem waren es aber mindestens drei Tagesreisen. Trotzdem gingen Maria und Josef jedes Jahr zum Fest nach Jerusalem. Das Fest dauerte sieben Tage, zwei davon musste man in Jerusalem verbringen. Die Familie blieb aber die ganze Woche dort.

Sie taten also viel mehr, als das Gesetz verlangte. Lukas schildert Maria und Josef als besonders eifrige Juden, sehr fromm und gottesfürchtig, wie man damals gesagt hätte. Sie liebten das Gesetz des Mose, nahmen es als Weisung und taten mehr, als das Gesetz verlangte. Lukas beschreibt das Elternhaus, in welchem Jesus aufwuchs, als ein gutes jüdisches Elternhaus.

Jesus war zwölf Jahre alt. Er brauchte das Gesetz des Mose noch nicht zu erfüllen. Erst mit 13 Jahren wurde und wird ein Jude gesetzespflichtig, ein "Sohn der Pflicht", Bar Mizwa, und das wurde und wird gefeiert. Vermutlich freute sich die Familie schon auf das Fest. Maria und Josef nahmen ihren Sohn schon vorher mit, um ihn auf seine bevorstehenden Pflichten vorzubereiten.

Vom Aufenthalt in Jerusalem berichtet Lukas gar nichts. Erst auf dem Rückweg wird es aufregend. Nach einem Tagesmarsch stellen die Eltern fest, dass Jesus in der Reisegruppe fehlt. Die ganze Dorfgemeinschaft wanderte zusammen, jeder kannte jeden. Das war eine schöne Gelegenheit, mal mit diesen und mal mit jenen Verwandten und Nachbarn zu sprechen. Über Tag war es also völlig normal, dass Jesus nicht bei seinen Eltern war. Erst als es dunkel wurde, vermissten sie ihn. Sie suchten die ganze Reisegruppe ab und fanden ihn nicht. Am nächsten Morgen gingen sie noch einmal nach Jerusalem, um ihn dort zu suchen. Erst abends kamen sie wieder in Jerusalem an.

Sie suchten ihn drei Tage lang. Erst dann fanden sie ihn. Sie fanden ihn im Tempel. Erstaunlich, dass sie dafür drei Tage brauchten, denn die Familie war ja wegen des Tempels nach Jerusalem gezogen. Was will Lukas damit sagen? Warum baut er im Zuhörer solche Spannung auf? Warum gehen die Eltern nicht sofort in den Tempel? Waren ihnen Jesu Neigungen so fremd?

Lukas berichtet auch nicht von Wiedersehensfreude, wie man erwarten kann, sondern vom Entsetzen der Eltern. Denn Jesus saß mitten zwischen den Lehrern, nicht etwa zu ihren Füßen wie ein Zuhörer oder ein Schüler! Jesus hörte den Lehrern zu und fragte sie. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.

Jesus, der Junge vom Lande, noch nicht religionsmündig, diskutiert anscheinend gleichrangig mit den Gelehrten. Das religiöse Familienleben hat also seine Frucht getragen, reichliche Frucht. Mehr noch: Lukas schildert Jesus als eine Art von Wunderkind. Wir können dabei an den jungen Wolfgang Amadeus Mozart denken, dessen Begabung schon sehr früh Menschen in ihren Bann zog.

Maria aber ist nicht voller Bewunderung! Sie ist entsetzt und stellt Jesus eine Frage, die zugleich ein Vorwurf ist: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.

Lukas lässt Maria sprechen und nicht etwa Josef, den Haushaltsvorstand. Die Mutter ist oft den Kindern näher als der Vater, sie hat sie ja in ihrem Leib getragen und mehr Schmerzen und Arbeit und Sorgen mit ihnen gehabt.

Wir sollten erwarten, dass der 12-jährige Jesus für solche Schmerzen Verständnis hat. Schließlich hat er vor der Rückreise nicht um Erlaubnis gefragt, in Jerusalem zu bleiben. Er hat sich nicht einmal abgemeldet. Da ist Marias Frage doch wirklich sehr milde.

Stattdessen erwidert antwortet Jesus: Warum habt ihr mich gesucht? Wißt ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist?

Diese Antwort reißt uns aus allen psychologischen Überlegungen heraus und löst die Spannung. Mit diesem ersten Wort Jesu sagt uns Lukas, worauf es in seiner Erzählung ankommt: Jesus hat eine unmittelbare Beziehung zu Gott als seinem Vater, und Jesus gehorcht Gott mehr als den Menschen.

Maria sagt: Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Jesus antwortet: Ich muß in dem sein, was meines Vaters ist. Wir heute, mit dem Evangelium vertraut, verstehen sofort: Maria sagt "Vater" und meint Josef, aber Jesus sagt ebenso "Vater" und meint Gott.

Ich muß sein in dem, was meines Vaters ist. Meint Jesus den Tempel damit, das Haus Gottes? Oder meint er Gottes Wort und Gesetz, über die er mit den Schriftgelehrten diskutiert hat und in denen er geistlich zu Hause ist? Meint er seine besondere Berufung durch Gott? Seine Antwort umfasst wohl all das zusammen.

Lukas fährt fort: Maria und Josef verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Jesu Wirken, Tod und Auferstehung waren ihnen ja noch verborgen. Aber auch wir, wenn wir davon mit dem Kopf wissen, müssen erst einmal unsere eigenen Vorstellungen beiseite lassen und auf die Worte Jesu achten, die uns in diesem neuen Jahr betroffen machen, die wir nicht verstehen - oder die uns ärgern! Tragen wir sie mit uns herum, still und absichtslos. Vielleicht ist es uns dann geschenkt, mehr zu verstehen und und mit Jesus beim Vater zu Hause zu sein.

Die Erzählung endet versöhnlich. Jesus ging mit seinen Eltern zurück nach Nazareth und war ihnen untertan.

Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Diese Bemerkung über Maria kennen wir schon aus der Weihnachtsgeschichte, in der Maria alles in ihrem Herzen behielt, was die Hirten ihr berichteten. Lukas erwähnt Marias Verhalten hier ein zweites Mal. Ich denke, er empfiehlt damit uns Lesern, ebenso die gute Botschaft zu bewahren und zu bedenken, die Jesus brachte.

Nachdem der Evangelist die eigentliche Heimat Jesu in der Nähe Gottes kurz hat aufleuchten lassen, lässt er ihn in sein menschliches Zuhause nach Nazareth zurückkehren. Er beschreibt damit unnachahmlich schön dasselbe, was die Theologen später in eine kurze Formel fassten: Jesus ist wahrer Gott und wahrer Mensch.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten