Die erste Gemeinde

Predigt in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 26. Juli 1998 (Apostelgeschichte 2,41a.42-47)


Liebe Gemeinde: Akten haben bei vielen einen schlechten Ruf, vor allem, wenn sie alt sind. Zu den ältesten Akten, die auch heute immer mal wieder gewälzt werden, gehören die Acta Apostolorum, auf deutsch: Die Taten der Apostel, besser bekannt als die Apostelgeschichte des Lukas. Im Gegensatz zu vielen späteren Akten ist die Apostelgeschichte flüssig geschrieben, und man kann sie gut lesen. Lukas schrieb als ein Evangelist, der Menschen gewinnen wollte für die frohe Botschaft Jesu. Deshalb schrieb er so flüssig. Und deshalb durfte er auch ein bißchen stilisieren und übertreiben wie im heutigen Predigttext.

Lukas war übrigens unter den vielen Autoren der Bibel der einzige Nichtjude. Der Kolosserbrief nennt ihn einen Arzt. Lukas schrieb für gebildete Heiden und Heidenchristen. Vieles, was unseren Glauben menschlich macht und was Gefühle ansprechen kann, steht nur bei Lukas. Auch für Lukas gilt, was jemand über den Maler Fra Angelico gesagt hat: Ohne ihn wären die Dinge des Himmels nicht das, was sie sind.

Der Predigttext für heute aus dem zweiten Kapitel der Apostelgeschichte ab Vers 41 beginnt mit dem Satz "Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen". Um wessen Wort geht es? Es geht um die Predigt des Petrus beim ersten Pfingstfest, fünfzig Tage nach Jesu Tod und Auferweckung.

Vom ersten Pfingstfest berichtet Lukas das Sprachenwunder. Die Jünger predigen so, daß jeder Zuhörer, woher er auch kommt, die Jünger in seiner eigenen Sprache hört. Petrus erklärt dieses Wunder aus der Schrift als Ausgießung des Geistes Gottes und belegt, daß Gott diesen Jesus auferweckt hat. Seine Zuhörer fragen ihn und die anderen Apostel: Was sollen wir tun? Petrus antwortet: Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes.

An diese Predigt des Petrus schließt der heutige Predigttext an. Ich lese die vorgeschlagene Auswahl aus der Apostelgeschichte (2,41a.42-47).
Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen (...). Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen, und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen / und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.

Diese Beschreibung klingt wie eine Idylle, wie Wunschdenken. Sie ist eine Zusammenfassung, eine etwas pauschale Überleitung zwischen konkreteren Berichten. Ein bißchen mag Lukas diese Zusammenfassung auch geschönt haben. Oder möchten wir sie nur so einschätzen, damit wir mit unserer kirchlichen Gemeinschaft heute nicht allzu schlecht aussehen? Selbst wenn man bei Lukas ein Viertel abzieht, bleibt noch ein riesiger Unterschied zwischen der ersten Gemeinde und der Gemeinde heute. Diesem Schock wollen wir uns einmal aussetzen. Wir wollen genauer hinschauen, was Lukas beschreibt und was von dem Beschriebenen heute bei uns zu finden ist, und wollen dann bedenken, was für uns zu tun ist. --

Lukas nennt im ersten Satz unseres Textes vier Merkmale der ersten Gemeinde, damals in Jerusalem: die Lehre der Apostel und die Gemeinschaft, das Brotbrechen und das Gebet. Damit benennt er in Stichworten den Gottesdienst der Gemeinde, wenn nicht das ganze Christsein. Der übrige Predigttext führt hauptsächlich diese vier Merkmale weiter aus. Deshalb will ich in dieser Predigt nur von den vier Merkmalen sprechen.

Das erste Merkmal: Sie, die Getauften, blieben beständig in der Lehre der Apostel. Die Lehre der Apostel, das klingt heute wie eine wohldefinierte Menge von Lehrsätzen, wie eine Dogmatik. Aber eine christliche Dogmatik gab es damals noch nicht, obwohl es schon die Paulusbriefe gab. Es gab das jüdische Gesetz, das war ausformuliert bis in feine Verästelungen. Jesus hat nun gerade den Geist hinter dem Gesetz aufgezeigt. Er hat an einigen Stellen die Forderungen verschärft und sich an anderen Stellen über Einzelvorschriften hinweggesetzt. Er tat beides, um den Geist des Gesetzes aufzuzeigen und zu erfüllen. Die Lehre Jesu war eher eine Lebensweise, eine Haltung, eine lebendige Mitteilung, ein Vorgang, ein Austausch über den Umgang mit dem Gesetz. Denken wir doch nur an die Gleichnisse, auch zum Reich Gottes, an die Bergpredigt und an Jesu Taten. Die Lehre der Apostel, das waren zusätzlich Berichte und Gespräche über das Wirken Jesu, sein Leben, Leiden und Auferstehen. Die Apostel wollten Jesus nachfolgen, wollten so leben, handeln und lehren wie er.

Die Lehre der Apostel als geschriebene Dogmatik kann auch nur von beschränktem Nutzen sein, ebenso wie ein ausformuliertes Glaubensbekenntnis. Wer Gott ist, was Auferstehung bedeutet, historisch und für uns, wie der Heilige Geist wirkt, das alles kann man mit Worten nicht einmal so festschreiben, daß zwei Menschen sicher dasselbe darunter verstehen -- schon gar nicht so, daß es den anderen überzeugen muß. Das hat die Erkenntnistheorie in unserem Jahrhundert klar aufgezeigt. Beinahe hätte ich gesagt, in Bücher kann man unseren Glauben nicht fassen. Die Evangelisten und die Briefschreiber des Neuen Testament haben es zum Glück doch gekonnt, haben den Glauben gefaßt in die Bücher der Bibel. Sie berichten, und sie reflektieren über das Berichtete, betreiben Theologie schon im Neuen Testament. Sie versuchen mit allen Mitteln, das unerhört Neue mit bekannten Wörtern zu sagen, und das geht ganz gut mit Geschichten wie in der Apostelgeschichte des Lukas.

Die Urgemeinde in Jerusalem lebte also die Lehre Jesu und der Apostel vor. Nicht nur der Leiter der Gemeinde hat die frohe Botschaft verkündigt, sondern die ganze Gemeinde legte Zeugnis ab von der Lehre der Apostel. Ein großer Bischof der frühen Kirche -- ich habe leider vergessen, wer es war --, wurde gefragt, was er täte, um jemanden für Christus zu gewinnen. Er antwortete: Ich würde ihn für einige Wochen in mein Haus aufnehmen.

Das zweite Merkmal: Sie blieben beständig in der Gemeinschaft. Unser Text sagt: Sie, die Getauften, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.

Auf den ersten Blick geht es hier um die Gütergemeinschaft, wenn auch nur beim Konsum und nicht beim Erwerb, nicht bei der Produktion. Diese Berichte des Lukas von der Gütergemeinschaft der Urgemeinde haben den konkreten Anstoß zu vielen Utopien gegeben, vermutlich schon vor dem Buch von Thomas Morus von 1516 über die neue Insel Utopia und vermutlich auch noch nach der wirtschaftlichen Utopie von Karl Marx vor hundertfünfzig Jahren. Und ich denke, wir können auch heute noch Neues darin entdecken.

Achten wir einmal genauer auf den Halbsatz je nachdem es einer nötig hatte. Was er sagt, scheint mir das wichtigste am zweiten Merkmal zu sein: Die Gemeinschaft half immer, wenn jemand Not litt. Man hat schon gesagt, wie gut oder schlecht eine Regierung sei, das lasse sich daran sehen, wie gut oder schlecht es den Ärmsten im Staate gehe. Um wieviel mehr gilt das für eine christliche Gemeinde!

Wenn ich es recht sehe, ist die Gütergemeinschaft der ersten Gemeinde nur ein Aspekt der größeren, geistlichen Gemeinschaft, wenn auch ein wichtiger. Wichtig, weil wir ohne zu wirtschaften nicht leben können. Auch Jesus nimmt die Mehrzahl seiner Gleichnisse und Beispiele aus dem häuslichen Wirtschaften und aus dem Wirtschaftsverkehr zwischen Menschen. In der Weise des Wirtschaftens wird sichtbar, woraus ein Mensch oder eine Gemeinschaft lebt. Deshalb kann Jesus am Wirtschaften zeigen, wes Geistes Kind jemand ist.

Wenn ich sehe, wie glaubwürdig manche Sekte immerhin die Gemeinschaft lebt, dann können wir landeskirchlichen Gemeinden nur neidisch und blaß werden. Hüten wir uns, auf Neuapostolische oder Zeugen Jehovas zum Beispiel herabzusehen. Gewiß ist es schlimm, daß sie die evangelische wie die katholische Kirche nicht als christlich ansehen. Immerhin bedeutet auch im Neuen Testament die Gemeinschaft immer nur die Gemeinschaft unter Glaubensbrüdern, wenn nicht gerade von Feindesliebe die Rede ist. (Quelle: Gerhard Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? - 1982) Gewiß sehen wir grobe Splitter in den theologischen Augen dieser Sekten. Aber ebenso gewiß sind wir nicht das Splitterräumkommando Gottes. Schauen wir doch bei den extremen Gemeinschaften, die sich auf Christus berufen, zuerst auf das, worin sie uns Vorbild sein können.

Das dritte Merkmal: Sie blieben beständig im Brotbrechen. Wir brauchen hier nicht zu trennen zwischen dem Teilen des täglichen Brotes mit den Bedürftigen und dem Herrenmahl. Anfangs war das Brotbrechen vermutlich zugleich Sättigung und Feier des Herrenmahls. Auch unsere alltäglichen Mahlzeiten haben etwas von einer Feier. Jesus hat immer wieder das Himmelreich mit einem Mahl verglichen. Ein Mahl schafft Gemeinschaft zwischen Menschen und mit dem Auferstandenen und stellt sie dar.

Das vierte Merkmal: Sie blieben beständig im Gebet. Sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel ... und lobten Gott. Gebet ist hier zuerst das gemeinsame Gebet, im Tempel und sicher auch in den Häusern, nicht nur beim Brotbrechen.

Wozu brauchen wir Gemeinschaft und Gemeinde, warum kann man nicht als einzelner ein Christ sein? Die Aufgabe, diesen Gottesdienst vorzubereiten, hat mich zu einem Buch von Gerhard Lohfink geführt:
Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Dies Buch belegt durchgängig, daß Jesus ebenso wie später die Apostel einschließlich Paulus vor allem das Gottesvolk sammeln und endgültig wiederherstellen wollten. Schlüssel ist eine Stelle in Ezechiel, oder Hesekiel, Kapitel 36, ab Vers 23b: Und die Heiden sollen erfahren, daß ich der Herr bin, spricht Gott der Herr, wenn ich vor ihren Augen an euch zeige, daß ich heilig bin. Denn ich will euch aus den Heiden herausholen und euch aus allen Ländern sammeln und wieder in euer Land bringen. Lohfink sagt, die erste Bitte des Vaterunsers, Geheiligt werde dein Name, könne gar nichts anderes bedeuten als "Gott, heilige du deinen Namen, stelle deinen Ruhm wieder her, indem du dein zerstreutes Volk wieder zusammenführst". Die erste Gemeinde versteht sich als Teil des endzeitlichen Volkes Gottes. Sie verwirklicht, wozu Gott alle Menschen ruft: sein heiliges Volk zu sein. Deshalb blieb sie beständig im Gebet.

So viel zu den vier Merkmalen. Über die Reaktion der Umgebung erfahren wir: Die Christen fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Das war nicht etwa, weil sie sich darum bemühten. Sie waren einfach so, wie sie eben sein mußten, nachdem sie den Ruf Christi aufgenommen hatten. Sie warben nicht um Zustimmung, sondern sie taten das, was sie nach dem Erlebten tun mußten. Sie konnten das, was den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit war, überzeugend vorleben. Deshalb stießen viele von außen zu ihnen, und die anderen schauten wohlwollend auf sie.

Was kann uns der Text für unsere Gemeinde hier und heute sagen? Zunächst einmal: Für unsere Gemeinde mit 3300 Seelen läßt sich eine einzige so enge Gemeinschaft schlichtweg nicht verwirklichen. Ich las einmal, ein Mensch könne mit 200 anderen Menschen Beziehungen unterhalten. Und Verwandte und Freunde auswärts hat er ja auch. Die Verheißung liegt auf den kleinen Gemeinschaften und Gruppen.

In unserer Gemeinde gibt es mindestens einen Hauskreis, in dem Menschen miteinander die Schrift lesen und beten. Das sind geschlossene Kreise, und trotzdem wirken sie geistlich in unsere Gemeinde hinein. Ich freue mich, daß es Hauskreise gibt, denn Bibelarbeit im Gemeindezentrum war immer dünn besucht und ist es heute noch.

Weiter gibt es hier eine große Zahl von sogenannten Gemeindekreisen. Ich meine die regelmäßigen Veranstaltungen unserer Gemeinde, die anderthalb Spalten im Gemeindebrief mitteilungen. Theologen haben schon über Gemeinden gelästert, die nur aus Kreisen bestehen. Aber manche dieser Kreise sind Gemeinschaften, die eng zusammenhalten und viel bewirken.

Eine andere Möglichkeit zu kleinen Gemeinschaften ist die räumliche Aufteilung der Gemeinde. In Duisburg haben die evangelischen Gemeinden Bezirksfrauen. Sie sorgen nach Kräften dafür, daß niemand Not leidet, wie in der Urgemeinde. Ich denke dabei nicht nur an materielle Not, sondern auch an seelische Not. Die gibt es wahrscheinlich auch in wohlhabenden Wohnvierteln: Einsamkeit, Streit, Sucht. Die Diakoniesammlerinnen kennen ihren Bezirk und wissen, wo Zuspruch oder Hilfe fehlt. Es sammeln übrigens nicht nur Frauen, aber doch weit überwiegend. Auch beim Austragen des Gemeindebriefs kann man hier oder dort klingeln und als Kirche ins Haus kommen. Es muß ja nicht immer ein Besuch des Pfarrers sein. Wenn ich den Predigttext richtig lese, ist das Aufgabe aller Gemeindeglieder und nicht nur des Pfarrers.

Die Güter zu teilen mag ja noch einfach sein. Bis an unsere Grenzen fordern können uns Menschen mit psychischen Störungen, meist mit gestörter Wahrnehmung, Stichwort Wahnvorstellungen, oder mit gestörten Antrieben, Stichwort Depression, oder noch häufiger mit dem Nachlassen der Geisteskraft, meist im Alter. Manche von uns sind da schon völlig überfordert gewesen. Solche Menschen können, ohne etwas dafür zu können, unseren guten Willen auf eine harte Probe stellen.

Hauskreise, Gemeindekreise und Nachbarschaftshilfe können Lebenszentren der Gemeinde sein. Der Gottesdienst führt die Gruppen zusammen im gemeinsamen Hören, in der Anbetung, beim Herrenmahl. Hier können sich Christen der Gegenwart Christi vergewissern.

In unserer Gemeinde tut sich also nicht nur etwas, sondern sehr viel. Nehmen Sie einfach mal einen Gemeindebrief von vor zwanzig Jahren zur Hand: Auf der Titelseite das geistliche Wort, in der Mitte vier grüne Seiten mit Tabellen, und auf den restlichen drei Seiten stand, was in Hangelar und Holzlar zusammen los war. Mir scheint, heute ist mehr evangelisches Gemeindeleben in Holzlar. --

Das heißt aber nicht, daß wir uns auf dem Erreichten ausruhen können. Phantasie ist gefragt. Wir dürfen alle gespannt sein, was für neue Ideen unser Jugendforumtag am 6. September bringen wird.

Vielleicht ist bei unserem herbstlichen Gemeindefest manches von der lebendigen Gemeinschaft der ersten Gemeinde zu spüren, das in unserem normalen Gottesdienst fehlt. Zum Glück haben wir eine Vielfalt von Gottesdiensten, die vielerlei Gottesgaben aufscheinen läßt. Jeder Gottesdienst will ein kleines Gemeindefest sein. Der Gottesdienst und die Gespräche vorher und nachher wirken mit, unsere Gemeinde aufzubauen. Jeder von uns ist hier im Gottesdienst nicht ein Besucher, sondern ein Teilnehmer. Bringen wir alle / uns und unsere Gaben möglichst lebendig in den Gottesdienst ein und bitten wir den Herrn der Kirche um seinen Segen dazu.

Und der Friede Gottes, ...


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten