Nächstenliebe und Gottes Größe

Predigt über 1. Johannes 3,17-20 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 8. April 2004 (Gründonnerstag)


Als Predigttext für heute hat der Eine-Welt-Kreis einen Text aus dem 1. Johannesbrief (3,17-20) ausgesucht. Der Text ist auf Ihrem Blatt abgedruckt. Ich lese ihn vor.

-- Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er, Jesus, sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen.

-- Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt dann die Liebe Gottes in ihm? Meine Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.

-- Daran erkennen wir, dass wir aus der Wahrheit sind, und können unser Herz vor ihm damit zum Schweigen bringen, dass, wenn uns unser Herz verdammt, Gott größer ist als unser Herz und erkennt alle Dinge.

Ein Dreisatz kommt uns da entgegen:
-- Christus hat Großes für uns getan, und zwar aus Liebe.
-- Durch die Liebe zwischen Gott und uns tun wir Gutes.
-- Und wenn unser Herz uns anklagt, wir hätten zu wenig getan, dann zeigt sich: Gott ist größer als unser Herz, er spricht uns frei.
Dieser Dreisatz will uns aufmuntern will und Freude machen, er will uns zum gelingenden Leben führen.

Äußerlich gesehen sind vom ganzen Predigttext nur der erste und der letzte Halbsatz Zuspruch an uns:
-- Daran haben wir die Liebe Jesu Christi erkannt, dass er sein Leben für uns gelassen hat;
-- Gott größer ist als unser Herz und erkennt alle Dinge.

Alles dazwischen sieht aus wie Forderung, Aufforderung und Anforderung. Ganz deutlich steht eine Aufforderung auch in dem einzigen Satz, der als Frage daherkommt: Wenn jemand Güter der Welt hat und sieht seinen Mitmenschen darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt dann die Liebe Gottes in ihm? Das heißt, gebt von eurem Besitz ab.

Noch schärfer ist die Aufforderung im Halbsatz davor: Wir sollen das Leben für die Brüder lassen.

Aber Forderungen sind nicht der Kern unseres Glaubens. Sie sind nur zur Selbstprüfung brauchbar, und auch das nur beschränkt, weil Gott größer ist als unser Herz. Die Forderungen sind zwar in unserem Predigttext in der Mitte, sie nehmen auch den größten Raum ein, im Predigttext und in der Predigt. Trotzdem: Forderungen sind nicht die Mitte des Glaubens, schon gar nicht die Mitte des 1. Johannesbriefes. Darin geht es vor allem um die Liebe, die Gott den Menschen schenkt.

Hören wir den Dreisatz im heutigen Predigttext noch einmal und gehen ihn dann durch. -- Christus hat Großes für uns getan, und zwar aus Liebe. -- Durch die Liebe zwischen Gott und uns tun wir Gutes. -- Und wenn unser Herz uns anklagt, wir hätten zu wenig getan, dann zeigt sich: Gott ist größer als unser Herz, er spricht uns frei.

Unser Text beginnt: Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen.

Jesus hat sein Leben für uns gelassen. Ich höre daraus zuerst: Jesus hat sein Leben riskiert, um den Menschen zu sagen und mit Taten zu bezeugen, von wem er kommt und worauf es ankommt, und er hat sein Leben dabei verloren, hingegeben. Vor unserer Pflicht steht ein Geschenk an uns. Wir haben mehr geschenkt bekommen, als wir jemals weitergeben können, nämlich Sinn und Ziel, die Nähe Gottes.

Teil dieses Geschenks, Teil des Leidens und Sterbens Jesu ist auch das heilige Abendmahl, also unsere Gemeinschaft mit Jesus und unsere Gemeinschaft miteinander, ob reich oder arm, begabt oder weniger begabt, bevorzugt oder scheinbar benachteiligt von Gott. Heute feiert unsere Kirche die Einsetzung des Abendmahls durch Jesus. Das Abendmahl macht Welten, die scheinbar ganz verschieden sind, zu einer Welt.

Wir sollen [...] das Leben für die Brüder lassen. Wenige von uns kommen in eine Lage, wo sie buchstäblich ihr Leben dahingeben könnten. Aber wir alle sollen unser Leben ganz für die Mitmenschen einsetzen. Wenn wir es nur für uns selber und für unser eigenes Glück einsetzen, verfehlen wir dieses Glück ganz sicher. Wenn wir es für die Mitmenschen einsetzen, dann setzen wir es für das wichtigste ein, was es gibt, und dafür steht das Wort Gott. Etwas Besseres wüsste ich auf der Welt nicht zu tun. Menschen, die das gründlich tun, gelten uns mit Recht als Vorbilder: Franziskus, Albert Schweitzer, Mutter Teresa, Ruth Pfau, Karlheinz Böhm und viele mehr.

Unser Text geht weiter: Wenn jemand Güter der Welt hat und sieht seinen Mitmenschen darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt dann die Liebe Gottes in ihm?

Man kann sofort antworten "gar nicht, die Liebe Gottes ist dann nicht mehr da". So ist die Frage auch gemeint, eine rhetorische Frage als Aufforderung zur Tat. Das wird bestätigt durch den nächsten Satz: ... lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.

Man kann auch Gegenfragen stellen und so dieser Frage ausweichen. Für jede Gegenfrage gibt es Antworten, mit denen wir uns beruhigen können, aber vorschnell beruhigen, gegen die Wahrheit, ganz anders, als Johannes uns Beruhigung für unser Herz verspricht. Wie im wirklichen Leben mische ich vertretbare Gegenreden mit Ausreden. Wie viel oder wie wenig Wahrheit in jeder der folgenden Aussagen steckt, mag jeder selbst beurteilen.

-- Haben wir denn "Güter der Welt"? Wir haben nur das, was wir uns erarbeitet haben, und vielleicht ein wenig Ererbtes, höchstens das, was wir für ein menschenwürdiges Leben brauchen, und möglichst ein bisschen Erspartes, damit wir nicht bald anderen zur Last fallen.

-- Sehen wir irgendeinen Menschen hungern oder Mangel an Gütern der Welt leiden? Hier in Deutschland kaum, hier gibt es die Sozialhilfe, und wer mit dem Papierkrieg nicht zurecht kommt, kann zur kirchlichen Sozialberatung gehen. Die Hilfe ist bei uns gut organisiert. Die Stadt muss jeden Obdachlosen, der das will, unterbringen, nicht bequem, aber zumutbar. Niemand braucht bettelnd an der Straße zu hocken oder unter Brücken zu schlafen.

Vom Ausland kommt viel Elend auf unseren Fernseher. Durch Flugreisen, Handel und Verträge sind fast alle Länder zu einer Welt zusammengewachsen. Die Not zum Beispiel in Namibia, früher Deutsch-Südwestafrika, ist uns bekannt. Sie ist viele Male größer als die Not in russischen Dörfern, und die wiederum ist viele Male größer als bei uns. Aber das ist doch viel zu weit weg, als dass wir helfen könnten. Die Schäden der Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwest vor hundert Jahren und die Verheerungen durch Hitlers Armeen vor fünfzig Jahren müssten doch längst vergessen sein. Wir können nicht allen helfen, und wenn wir Geld geben, kommt das wenigste an.

-- Schließen wir denn unser Herz vor dem Darbenden zu, wie die Frage im Johannesbrief unterstellt? Nein, es rührt uns das Herz, wenn wir das Elend der Welt auf dem Bildschirm sehen. Aber wie gesagt: Wir können unmöglich alle Not der Welt beheben. Wir zahlen nicht nur den Zehnten wie früher, wir zahlen etwa die Hälfte unseres Sozialprodukts als Steuern und als Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung, beides auch gegen Armut. Dazu kommt noch die Kirchensteuer, und obendrauf geben wir noch hier zehn Euro für die Kinderdörfer und dort 20 Euro für den Tierschutz. Viele Reiche geben viel mehr, so dass jedes Jahr Hunderte von Millionen zusammenkommen. Und selbst wenn man an einem Tage die Güter der Welt gleichmäßig verteilen würde, hätten drei Tage später die einen ihren Teil schon verdorben und die anderen mit Können und Fleiß mehr daraus gemacht.

Wenn Sie diese Ausreden schlimm finden, dann haben Sie mich richtig verstanden. Dann schließen Sie Ihr Herz nicht zu. Dann können Sie die Botschaft der Nächstenliebe auch anderen vermitteln. Unser Eine-Welt-Kreis wirkt daran mit, wenn er für gerechten Handel arbeitet. Denn wo jemand darbt, fehlt es oft an Gerechtigkeit.

Am Schluss des Predigttextes steht ein großer Trost. Damit will ich auch die Predigt schließen. Selbst bei größter moralischer Anstrengung bleiben wir unseren Mitmenschen immer noch viel schuldig. Das soll nun kein Grund sein, zu verzagen, sich zu verurteilen oder depressiv zu werden. Johannes, der Evangelist und zugleich der Schreiber dieses Briefes, antwortet auf die Erfahrung des eigenen Ungenügens so: Wenn unser Herz erkennt, was Gott von uns erwartet, wozu sein Geschenk uns fähig macht, und wenn unser Herz zugleich erkennt, wie wenig wir diese Erwartung erfüllen können, dann dürfen wir getrost sein: Gott kann dennoch etwas mit uns anfangen und kann aus unserem kleinen Tun etwas Großes machen.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten