Weisungen für das neue Leben

Predigt in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 18. Oktober 1998, 19. Sonntag nach Trinitatis (Epheser 4,22-32)


Liebe Gemeinde: Auf den ersten Blick ist der Predigttext für heute eine lange Liste von Ermahnungen: Ändert euer früheres Leben; lügt nicht; wenn ihr zürnt, dann sündigt nicht; stehlt nicht; schwatzt nicht; vergebt einander. Das riecht meilenweit nach Moral.

Unser christlicher Glaube ist aber viel mehr als Moral, auch wenn in den Briefen des Neuen Testaments immer wieder lange Listen von Ermahnungen stehen. Das zeigt auch der Predigttext für heute. Wenn man diesen Text genauer anschaut, dann sieht man, daß es hier gar nicht um Moral geht, sondern um die Taufe mit ihren Folgen. Das Wort "Taufe" kommt zwar im Text nicht vor. Trotzdem sprechen zwei Stellen ganz eindeutig die Taufe an. Für den ersten Absatz ist das ziemlich offensichtlich. Die Stelle später im Text ist etwas schwerer zu erkennen.

Ich lese aus dem Epheserbrief das Kapitel 4 ab Vers 22.

Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben, und erneuert euren Geist und Sinn. Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Deshalb legt die Lüge ab, und redet untereinander die Wahrheit; denn wir sind als Glieder miteinander verbunden. Laßt euch durch den Zorn nicht zur Sünde hinreißen! Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen. Gebt dem Teufel keinen Raum! Der Dieb soll nicht mehr stehlen, sondern arbeiten und sich mit seinen Händen etwas verdienen, damit er den Notleidenden davon geben kann. Über eure Lippen komme kein böses Wort, sondern nur ein gutes, das den, der es braucht, stärkt und dem, der es hört, Nutzen bringt. Beleidigt nicht den Heiligen Geist Gottes, dessen Siegel ihr tragt für den Tag der Erlösung. Jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung und alles Böse verbannt aus eurer Mitte! Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat.

Die eine Aussage, die ganz eindeutig die Taufe anspricht, ist die Aufforderung Zieht den neuen Menschen an. Das Wort "anziehen" bedeutet hier "als Gewand anziehen". Warum soll das Anziehen mit Taufe zu tun haben? Einige Jahrzehnte älter als dieser Text ist der Galaterbrief. Schon dort steht: Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen (Gal 3,27), mit demselben Wort für "anziehen".

Das Motiv vom Ablegen des alten Menschen und Anziehen des neuen Menschen hat also seinen Ursprung in der Taufe. Hierher kommt übrigens auch die Sitte, ein Taufkleid anzulegen. -- Der ganze erste Absatz unseres Textes spricht von der Taufe; ich lese ihn noch einmal:

Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben, und erneuert euren Geist und Sinn. Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Darin steckt außerdem, mit etwas anderen Worten, die erste Botschaft Jesu am Beginn seines Wirkens, bei Matthäus (4,17): Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe, oder bei Markus (1,15): Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an die Frohe Botschaft. So trocken und moralisierend unser Predigttext scheinen mag, so nahe ist er doch am Kern der Botschaft Jesu.

Erneuert euren Geist und Sinn, sagt unser Text. Das ist ein einmaliges, endgültiges Umkehren vom alten zum neuen Menschen und zugleich ein immerwährendes Sich-Erneuern.

Schon die Jünger Jesu brauchten beides, das einmalige, endgültige Umkehren bei ihrer Berufung und die immer neue Belehrung durch ihren Meister in immer neuen Situationen. An wievielen Stellen im Neuen Testament wird doch berichtet, wie dumm sich die Jünger anstellen, wie wenig sie begriffen haben und wie Jesus ihnen noch die grundsätzlichsten Dinge seiner Lehre beibringen muß!

Das mag uns trösten, wenn wir merken, wie unvollkommen wir sind. Das kann uns aber auch zeigen, wie schwer die Aufgabe ist, uns zu erneuern. Denn wenn die Jünger immerhin schon alles verlassen hatten, um Jesus nachzufolgen, dann werden sie das Wichtigste schon begriffen haben, also vermutlich mehr als wir jetzt. Und wenn sie trotzdem noch, zum Beispiel, die Macht im Himmelreich begehren, dann müssen wir uns fragen, wo wir unsere blinden Flecken haben, wo wir ganz offensichtliche und wichtige Dinge noch nicht sehen.

Es reicht also nicht aus, wenn der Text uns nur sagt, wir sollten uns erneuern. Zweierlei müssen wir noch wissen: Warum ist das nötig, oder wozu ist das gut, und wenn wir das eingesehen haben, kommt die zweite Frage: Wie machen wir das? Auf beide Fragen gibt der Text Antworten.

Erste Frage: Warum sollen wir uns überhaupt erneuern? Unser Text sagt: Der alte Mensch geht in Verblendung und Begierde zugrunde, und der neue Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen.
- Der alte Mensch sucht das Seine, und dafür lügt und stiehlt er schon mal; das führt zu nichts. Der alte Mensch macht Sachen, die niemandem anders dienen und keine Zukunft haben. Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot. So sprechen schon bei Jesaja (22,13) die Menschen, die nichts von Gott wissen wollen. Man kann so leben, aus Gewohnheit oder mit Absicht, aber genau davon will unser Text uns abbringen.
- Der neue Mensch wird im heutigen Predigttext hauptsächlich durch die Laster gekennzeichnet, die er nicht hat. Das ist ein bißchen wenig für die große Forderung, ein neuer Mensch zu werden. Ich habe den vorangehenden Text des Epheserbriefs nach Aussagen über den neuen Menschen durchsucht. Im zweiten Kapitel steht, hier etwas gerafft: Ihr wart tot infolge eurer Verfehlungen und Sünden. (...) Gott aber (...) hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe (...) zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. (...) Gottes Geschöpfe sind wir, in Christus Jesus dazu geschaffen, in unserem Leben die guten Werke zu tun, die Gott für uns im voraus bereitet hat. (...) Christus ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile, Juden und Heiden, und riß durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder. Er hob das Gesetz samt seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in seiner Person zu einem neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden (...).
Das heißt erst einmal, daß nicht wir selber aus uns einen neuen Menschen machen. Christus hat aus Juden und Heiden den einen neuen Menschen gemacht, ihm Frieden gegeben und ihm Gottes Liebe zugesagt. Wir sollen diesen Menschen anziehen, das heißt auch, diesen Frieden und diese Liebe auf der Erde sichtbar machen. Warum? Um Gottes Wohltaten für uns, Friede und Liebe, nicht zurückzuweisen, sondern anzunehmen.

Zweite Frage: Wie erneuere ich meinen Geist und Sinn? -- Wenn ich hier "ich" sage, nehme ich mich nur als ein Beispiel. Der Text fordert uns alle auf, aber ich will nicht für Sie mit sprechen und "wir" sagen. -- Woran erkenne ich, daß eine meiner Gewohnheiten oder eins meiner Vorurteile schädlich ist, daß ich mich an dieser Stelle erneuern sollte? Ich kann Anregungen von außen bekommen, zum Beispiel von diesem Text aus dem Epheserbrief oder von anderen Menschen, oder ich kann selber darauf kommen und nachdenklich werden. Nur zu bereitwillig kritisieren mich die anderen. Ich vertrage es gut, wenn andere die Splitter in meinen Augen sehen und mich darauf hinweisen. Viele wollen an meiner Vervollkommnung arbeiten. Das ist gut eingerichtet, denn Kritik hilft mir mehr als jedes Lob, wenn ich nur will. -- Hier sehen Sie einen Grund, warum ich nicht für Sie mit sprechen kann; manchem von Ihnen, vor allen den jungen Menschen, hilft sicher ein Lob viel mehr als die beste Kritik.

Unser Text enthält eine Liste von Ermahnungen. Aus diesen Ermahnungen kann man auf Mängel in der damaligen Empfängergemeinde schließen. Die Ermahnungen, außer der letzten, beschreiben das alte Leben. Wenn ich meinen Geist und Sinn erneuern will, Frieden und Liebe annehmen und fördern, kann ich sie als Spiegel benutzen, das ist alles.

Warum wollen diese Ermahnungen mehr sein als Moral? Ich versuche, es ebenso zu sagen, wie manche jüdischen Theologen es für die Zehn Gebote sagen. Als eine Möglichkeit der Auslegung unter anderen folgern sie aus dem ersten Gebot die anderen Gebote: Ich bin der Herr, dein Gott; darum brauchst du nicht mehr zu morden, die Ehe zu brechen, falsch Zeugnis zu reden und deines Nächsten Gut zu begehren. Hier geht es nicht darum, gute Werke zu tun. Paulus -- oder eher einer seiner Schüler, der ums Jahr 90 nach Christus im Namen des Paulus schrieb -- sagt in diesem Brief: Zieht den neuen Menschen an, und legt deshalb die Lüge ab. Weil ihr nicht mehr alte Menschen seid, weil Christus euch zu neuen Menschen gemacht hat, deshalb benehmt ihr euch jetzt selbstverständlich ganz anders als früher.

Die Ermahnungen sind Ausführungsbestimmungen, Erläuterungen, auch Erkennungsmerkmal für die Umkehr. Gute Werke sind nicht als solche gefordert, auch sie sind Erkennungsmerkmal: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

Es wäre schön, wenn nach der Umkehr die guten Werke so von selbst kämen. Die Welt bietet viele Versuchungen und Ablenkungen. Der Christ muß sich immer aufs neue vom göttlichen Geist erfüllen, bewegen und leiten lassen. Dabei will uns der Predigttext helfen.

So viel zu der Aufforderung am Anfang: Erneuert euren Geist und Sinn, zieht den neuen Menschen an, ich ergänze: den neuen Menschen, zu dem ihr durch die Taufe wurdet.

Jetzt bin ich Ihnen noch die zweite Stelle schuldig, die von der Taufe spricht. Das ist die Aussage "ihr tragt das Siegel des Heiligen Geistes". Mitten in der langen Liste ganz konkreter Ermahnungen für den Alltag steht der Satz: Beleidigt nicht den Heiligen Geist Gottes, dessen Siegel ihr tragt für den Tag der Erlösung.

Mit dem Siegel meint der Epheserbrief jedenfalls die Taufe, das sagt er klar im ersten Kapitel. Dort steht (1,13): Durch ihn, Christus, habt auch ihr das Wort der Wahrheit gehört, das Evangelium von eurer Rettung; durch ihn habt ihr das Siegel des verheißenen Heiligen Geistes empfangen, als ihr den Glauben annahmt.

Der Verfasser erinnert die Empfänger an ihre Bekehrung, ihre Taufe und an ihre Verpflichtung beim Empfang der Taufe, an ihre Errettung und Neuschöpfung durch Gott. Er sieht die christliche Gemeinde in der Gefahr, das alles zu vergessen und sich wieder der Lebensweise der nichtchristlichen Umwelt anzupassen. Die Erinnerung an das Getauftsein soll die Christen stärken.

Menschen tragen ein Siegel oder haben ein Siegel empfangen. Schon viel früher als der Verfasser des Epheserbriefes schreibt Paulus im zweiten Korintherbrief (1,21f) von einem Siegel und will seine Leser daran erinnern, aus dem Geist Gottes zu leben: Gott ist's aber, der uns fest macht samt euch in Christus und uns gesalbt und versiegelt und in unsere Herzen als Unterpfand den Geist gegeben hat.

Nun bleibt nur noch der letzte Satz unseres Textes zu beachten. Hier empfiehlt der Epheserbrief eine Tugend, und er beschreibt dieselbe Tugend mit verschiedenen Worten: Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat.

Das ist mehr als Moral. Wenn Menschen einander vergeben, dann ist das eine große Tugend. Güte und Vergebung, das ist Liebe, das ist nahe am Geist Gottes. Wer befreit ist von der Sorge um sich selbst, der kann zu anderen gütig sein. Wer ein neuer Mensch ist, eine Neuschöpfung durch den Geist Gottes, der ist ganz von selbst gütig zu anderen.

Ein Dichter, der zugleich Ältestenprediger war, Manfred Hausmann, hat ein Büchlein geschrieben mit dem Titel "Liebende leben von der Vergebung". Liebe und Vergebung sind eng verwandt.

Unser Predigttext spricht am Anfang vom Leben in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit, bringt in der Mitte handfeste Ermahnungen, spricht am Ende von der Vergebung und damit fast schon von der Liebe. Ich kann diese Predigt nicht besser zusammenfassen als mit dem letzten Satz unseres Predigttextes: Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten