Der brennende Dornbusch

Predigt in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 24. Januar 1999, Letzter Sonntag nach Epiphanias (2. Mose 3, 1-12a)


Begrüßung:
-- Wenn unser Kirchbau einen Namen hätte, dann müßte dieser Name wohl einen Bezug haben zu dem Motiv unseres großen Fensters, zum brennenden Dornbusch.
-- Wenn unser Kirchbau einen Namen hätte, dann könnten wir heute Namensfest feiern, denn der Predigtext für heute ist der Bericht vom brennenden Dornbusch. Heute ist also, wenn Sie so wollen, ein Festtag für diese Gemeinde, einer sogar, der nur alle sechs Jahre kommt. Bei der Gelegenheit will ich auch den Künstler nennen, der das Fenster gestaltet hat: Es war Professor Dedy aus Bergisch Gladbach.
-- Das große Fenster mit dem Bild des Dornbuschs ist dabei nur der größere Teil des Kunstwerks. Der zweite Teil ist jetzt leider durch die Orgel verdeckt und nur noch von außen zu sehen, neben der Außentür zur Sakristei. Dieses zweite bunte Fenster zeigt den zerklüfteten Berg, auf dem der Dornbusch stand, und nennt die Bibelstelle, wo dieser Bericht geschrieben steht, nämlich "2. Mose 3, 2".
-- Im brennenden Dornbusch stellt sich Gott dem Mose vor und gibt ihm den Auftrag, das Volk Israel aus der Sklaverei zu führen. Das wird uns von damals berichtet. Für heute, für diesen Gottesdienst ergeben sich von selbst die Fragen: Wo und wie erscheint Gott uns, und welchen Auftrag hat er für uns?


Predigt:

1 Der Predigttext für heute steht im zweiten Buch Mose. Dieses Buch der Bibel hat auch einen eigenen Namen: "Exodus", das heißt "der Weg hinaus". Gemeint ist der Auszug des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten. Dieser Auszug aus Ägypten ist das große Thema des zweiten Buches Mose.

Das Buch Exodus beginnt so: Die siebzig Nachkommen Jakobs werden in Ägypten zu einem großen Volk und füllen das Land. Ein neuer König von Ägypten schindet das Volk Israel. Er befiehlt sogar, alle neugeborenen hebräischen Knaben zu töten. Ein hebräisches Elternpaar -- der Name wird nicht genannt -- bekommt einen Sohn und nennt ihn Mose. Die Eltern verstecken ihn erst drei Monate lang und setzen ihn dann in einem Weidenkörbchen am Ufer des Nils aus; seine Schwester beobachtet ihn. Die Tochter des Pharao findet Mose und nimmt ihn als ihren Sohn an.

Als Mose groß geworden ist, sieht er einen ägyptischen Aufseher, der Juden quält, und erschlägt ihn. Mose muß fliehen. Er darf sich nicht mehr in Ägypten sehen lassen. Er findet Zuflucht in der Wüste bei einem Nomadenvolk, bei einem Priester. Der Priester gibt Mose seine Tochter zur Frau. Sie bekommt einen Sohn. Lange Zeit danach stirbt der König von Ägypten. -- Hier setzt unser Predigttext ein.

Ich lese aus dem 2. Buch Mose den Anfang von Kapitel 3. (Verse 1 bis 12a)

Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Steppe hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, daß der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt. Als aber der Herr sah, daß er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Gott sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von den Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land! Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen. Und der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und so bin ich herniedergefahren, daß ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie herausführe aus diesem Lande in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Weil denn nun das Geschrei der Israeliten vor mich gekommen ist und ich dazu ihre Not gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen, so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst. Mose sprach zu Gott: Wer bin ich, daß ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten? Er sprach: Ich will mit dir sein.

2 Unser Text beschreibt zwei zusammenhängende Erlebnisse des Mose: die Erscheinung Gottes und seinen Auftrag an Mose. Der Auftrag ist der Kern der Geschichte, ohne ihn könnte das Buch Exodus nicht so weitergehen. Der brennende Dornbusch hat in der Erzählung eher dienende Funktion: Um den Auftrag zu geben, erscheint Gott dem Mose und stellt sich vor. Die Erscheinung Gottes in einer Flamme kommt im alten Orient auch außerhalb der jüdischen Überlieferung vor. Es kommt also nicht darauf an, ob und wie man die Flammenerscheinung physikalisch erklären könnte.

Die Aussage des Textes ist davon ganz unabhängig. Der Verfasser will seine Zeitgenossen mit Gott vertraut machen und sie zum Vertrauen auf Gott führen. Die Hörer oder Leser sollen darauf vertrauen, daß Gott auch sie aus ihrer gegenwärtigen Bedrückung befreit.

Textforscher haben es herausgefunden: Die Wortwahl im Buch Exodus in den Berichten über die Sklaverei in Ägypten hatte für die damaligen Leser einen klaren Bezug zur Unterdrückung in ihrer Gegenwart. Die Sklaventreiber in Ägypten werden mit demselben Titel belegt wie die Aufseher von David und Salomo bei dem Arbeitsdienst, zu dem auch Juden herangezogen wurden. [Erich Zenger, Der Gott der Bibel, Kath. Bildungswerk Stuttgart 1979, S.15f] Schon die Verfasser damals haben überkommenes Erzählgut in den Dienst der Verkündigung für die damalige Gegenwart genommen. Der Bericht handelt vordergründig von einer früheren Befreiung, aber der Bearbeiter, der den alten Stoff hier weitererzählt, meint auch die Bedrückung seiner Hörer zu seiner Zeit, in seiner Gegenwart.

Zusammen mit der Befreiung ist das Vertrauen auf Gott ein großes Thema dieses Textes. Gott verspricht Mose, bei ihm zu sein, ihm zu helfen. Gott verbürgt sich. Bei einem so großen und gefährlichen Auftrag ging das wohl auch nicht anders. Gott wird ihm so sehr helfen während der Wüstenwanderung, daß er nachher sagen kann, er selbst habe sein Volk herausgeführt.

Für das Volk Israel gehört der Auszug aus Ägypten heute noch zum Kernbestand seines Volkseins und seines Glaubens. Jeder Jude soll seinen Kindern sagen: Gott hat mich aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Das Erlebnis der Befreiung ist konstitutiv für das Judentum bis heute.

Im Buch Exodus stehen in Kapitel 20 die Zehn Gebote. Am Anfang heißt es dort: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe. Für die Juden ist Gott derjenige, der sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Gott hat sich den Juden bei vielen Gelegenheiten gezeigt und hat sein Volk immer wieder ganz unmittelbar geschützt und manchmal auch gestraft.

3 Bis jetzt habe ich nur vom Buch Exodus und vom Volk Israel gesprochen. Ich will aber nicht versuchen, eine jüdische Schriftauslegung zu liefern. Ich will fragen: Was hat die Dornbuschgeschichte mit der Botschaft Jesu Christi zu tun?

Da hilft mir der Künstler unseres großen Fensters weiter. Er hat das Feuer im Dornbusch als einzelne Flammen gestaltet. Solche einzelnen Flammen kamen am ersten Pfingstfest auf jeden Jünger herab. Sie stehen bei Lukas als Zeichen für den Heiligen Geist, der die Jünger zu großen Taten befähigte. Wie kommt der Künstler dazu, hier am brennenden Dornbusch den Heiligen Geist darzustellen?

Im Alten Testament kommt der Heilige Geist so wörtlich gar nicht vor. Aber dort ist immerhin vom Geist Gottes oder vom Geist des Herrn die Rede. Der Geist Gottes ist Gott selber. Wenn es im Schöpfungsbericht heißt, "der Geist Gottes schwebte über den Wassern", dann heißt das, Gott selber schwebte über den Wassern.

Das Feuer im Dornbusch ist ein Zeichen für Gottes Gegenwart. Die einzelnen Flammen im Bild des Dornbusches weisen auf den Heiligen Geist, wie er einen Menschen ergreifen kann.

Der Bericht vom brennenden Dornbusch im Buch Exodus und der Bericht von Pfingsten in der Apostelgeschichte haben noch etwas Wichtiges gemeinsam. Beide Male wurden Menschen zu großen Taten gerufen. Am Dornbusch hat Gott den Mose zu großen Taten beauftragt, ermutigt und befähigt. Am ersten Pfingstfest hat der Heilige Geist die Jünger zu großen Taten ausgesandt und befähigt. "Begeistern" nennt man das heute noch.

Ich denke, Professor Dedy hat unserer Gemeinde einen guten Dienst damit getan, uns im Bild vom brennenden Dornbusch an das erste Pfingstfest zu erinnern.

Soviel zu den zwei Berichten von damals in den Büchern Exodus und Apostelgeschichte.

4 Wie begegnet Gott heute den Menschen? Vermutlich genauso, wie er dem Mose am Dornbusch begegnet ist und den Jüngern beim Pfingstfest. Ich meine natürlich nicht in der Weise, wie wir es bei wörtlichem Verständnis in der Bibel lesen. Also nicht in leuchtenden Flammen, die wir filmen könnten und deren Temperatur wir messen könnten.

Ich will damit sagen: Gott wirkt heute auf dieselbe Weise, wie er damals gewirkt hat. Ein Mensch ist plötzlich, oder nach reifem Überlegen, ergriffen von einer guten Aufgabe. Der so angesprochene Mensch übernimmt Verantwortung, kann seine guten Fähigkeiten entfalten und hilft anderen Menschen, einer äußeren oder inneren Bedrückung zu entgehen. Das setzt sich dann fort: Die so befreiten Menschen wirken befreiend weiter.

Bei welcher Gelegenheit kann ein Mensch so angesprochen werden? Bei einer Besinnung allein oder im Gespräch mit anderen oder beim Lesen oder beim Anblick eines Feuers oder wann auch immer. Darauf kommt es nicht an.

Doch gibt es eine besonders günstige Gelegenheit: die Begegnung mit dem Wort der Bibel. Das kann beim stillen Lesen sein oder bei der Bibelarbeit in der Gemeinde, das kann sofort beim Lesen sein oder Jahre später, wenn einem ein Wort in den Sinn kommt. Wichtig ist, daß wir offen sind und uns immer wieder aufs neue ansprechen und verwandeln lassen.

Freilich würden wir ein solches Erlebnis, eine solche innere Verwandlung nicht mehr so spektakulär beschreiben, wie die Verfasser der biblischen Schriften das getan haben. Unsere Sprache hat sich geändert. Äußere oder innere Ereignisse, die unser Leben verändern, beschreiben wir heute anders.

Aber wir sprechen immer noch oft unbefangen von Gott, obwohl er in unseren Leben nicht so eindeutig auftritt wie bei Mose am Dornbusch. Das kann zur Gewohnheit verkommmen wie ein gedankenloses "Ach Gott" oder "Gott sei Dank".

Viele haben daran gearbeitet, die alten Aussagen der Bibel in heutige Sprache zu übersetzen. Mancher will ja die gute Botschaft auch außerhalb der Kirche weitersagen. Wenn ich zu Kirchenfernen so sprechen will, daß sie mich verstehen, dann kann das in weltlichen Wörtern von heute besser gelingen als in den alten, gewohnten Wörtern aus der Bibel. Aus gutem Grund haben Theologen sogar vorgeschlagen, das Wort "Gott" eine Zeitlang nicht zu benutzen. Zumindest muß ich deutlich sagen, wen oder was ich meine, wenn ich "Gott" sage.

Angeregt durch ein theologisches Buch [Theophil Müller: Konfirmation, Trauung, Taufe, Beerdigung. Stuttgart 1988: Kohlhammer; S. 28ff], versuche ich das einmal so:
-- Vieles kann uns Angst machen; das Wort "Gott" dagegen weist auf das, was mir Vertrauen ermöglicht.
-- Vieles will uns einengen, am meisten noch meine festgefahrenen Gewohnheiten; das Wort "Gott" dagegen weist auf das, was mich Freiheit erfahren läßt.
-- Oft möchte ich sagen "Da kann man nichts machen"; das Wort "Gott" dagegen weist auf das, was mir trotzdem Hoffnung macht und Verantwortung eröffnet.

Vor allem in der inneren Begegnung mit den Schriften des Neuen Testaments kann ich Vertrauen lernen, kann ich Freiheit erfahren und Mut zur Verantwortung finden. Darum kann ich sagen: In Jesus begegnet mir Gott.

Woran können wir erkennen, ob eine Eingebung so eine gute Eingebung ist wie am Dornbusch oder zu Pfingsten? Je mehr sie menschliches Leben fördert -- natürlich nicht auf Kosten anderer Menschen --, je mehr sie Vertrauen schafft, Menschen befreit von inneren und äußeren Zwängen, Verantwortung übernehmen hilft, desto näher sind wir an dem, was uns in der Bibel überliefert wird, desto gewisser können wir sein, richtig zu liegen.

5 Kommen wir zurück zu Mose. Er war ein Flüchtling, von seinem Volk getrennt, hatte Angst, nach Ägypten zurückzukehren, hatte sich damit abgefunden, bei den Nomaden in der Wüste zu bleiben. Sein Volk war unterdrückt. Moses Versuch, wenigstens einige aus seinem Volk von der Bedrückung zu befreien, war kläglich gescheitert. Mose war auf sich zurückgeworfen.

In dieser Lage hat Mose eine Erscheinung Gottes. Er faßt Vertrauen zu Gott, übernimmt Verantwortung und führt sein Volk in die Freiheit.

Die drei Aspekte der altjüdischen Dornbuschgeschichte sind also auch drei der wichtigsten Aspekte unseres jüdisch-christlichen Glaubens. Wir können wirklich froh darüber sein, daß der Dornbusch unseren Kirchbau ziert.

Der Bericht vom brennenden Dornbusch will alle einladen, mutig mitzuwirken an der Befreiungsgeschichte, die Gott in unserer Welt durch den Exodus Israels aus Ägypten begonnen hat. Um das zu erläutern, lese ich Ihnen zum Schluß eine kleine Geschichte aus der chassidischen Tradition vor. Ausdem letzten Satz können wir den Auftrag Gottes an uns entnehmen.

Man fragte Rabbi Bunam: Es steht geschrieben: "Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten führte." Warum heißt es nicht: "Ich bin der Herr, dein Gott, der Himmel und Erde schuf"? Rabbi Bunam erklärte: "Himmel und Erde -- dann hätte der Mensch gesagt: Das ist mir zu groß, da traue ich micht nicht hin. Gott aber sprach zu ihm: Ich bin's, der ich dich aus dem Dreck geholt habe, nun komm heran und hör", und hilf mit, andere aus dem Dreck zu ziehen! [Erich Zenger, Der Gott der Bibel, Kath. Bildungswerk Stuttgart 1979, S.78f]

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten