Der Sohn höher als die Engel

Predigt über Hebr 1,7.13-14 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 29. September 2002,
Tag des Erzengels Michael und aller Engel


(Begrüßung)

Der Engel des HERRN lagert sich um die her, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus. Mit diesem Vers aus Psalm 34 begrüße ich Sie. --

Heute, am 29. September, ist der Tag des Erzengels Michael und aller Engel. In den letzten Monaten hing hier immer das grüne Kanzeltuch. Heute sehen Sie aber das weiße. Das zeigt: Dieser Gedenktag aller Engel ist, genau genommen, ein Christusfest. --

Zwei Lieder haben wir speziell für den Michaelistag im Gesangbuch, und natürlich werden wir heute beide singen. Im ersten kommt der Name Michael nur versteckt vor. Er ist dort ins Deutsche übersetzt und lautet "Wer ist wie Gott".

(Predigt)

Der Michaelistag, der Tag des Erzengels Michael und aller Engel, ist gemeinsames Erbe beider Konfessionen. Die Reformatoren haben zwar die Verehrung der Heiligen abgeschafft. Aber die Gedenktage einiger biblischer Gestalten sind uns erhalten geblieben, so auch der Michaelistag. Martin Luther wollte dieses "Fest St. Michaelis" ausdrücklich beibehalten, damit "bei den Christen ein rechter Verstand von den Engeln bleibe". Er hat darum oft zum Michaelistag gepredigt.

Der Michaelistag war früher auch in rein evangelischen Gegenden praktisch bedeutsam: Das Schuljahr begann und endete zu Michaelis, ebenso Arbeitsverträge, und manche Abgaben waren an Michaelis zu liefern. Heute noch ist der Erntedanktag nicht der erste Sonntag im Oktober, sondern der erste Sonntag nach Michaelis; das kann der 30. September sein.

Wo kommt Michael in der Bibel vor? Zuerst beim Propheten Daniel. Der nennt ihn einen großen Engelfürsten. Daraus ist erst später und außerhalb der Bibel ein "Erzengel" geworden. Das Stück im Danielbuch über Michael ist sehr jung, knapp 200 Jahre vor Christus aufgeschrieben. In den anderen Büchern des Alten Testaments gibt es keinen Engel Michael. Im Neuen Testament kommt der Name Michael überhaupt nur zweimal vor, einmal eher beiläufig im Judasbrief und einmal am Beginn einer längeren Vision in der Offenbarung des Johannes. Alle drei Bücher, in denen Michael vorkommt, sind späte Bücher, die eher am Rande unserer christlichen Verkündigung stehen.

Wodurch ist der Erzengel Michael bekannt und beliebt? Im Buch Daniel hilft Michael dem Propheten Daniel gegen den Engelfürsten eines anderen Volkes. Im Neuen Testament kämpft Michael gegen den Teufel und gegen den Drachen, das heißt, gegen die Feinde des Gottesvolkes. In vielen Kirchen ist Michael mit dem Drachen abgebildet. Auch in der Universität Bonn, im Schloßgebäude, steht im 1. Stock die Figur eines Drachentöters mit der lateinischen Aufschrift "Quis ut Deus", das heißt deutsch "Wer ist wie Gott". Sie kennen das schon als Übersetzung des Namens Michael. Der Name rühmt Gott, und Michael kämpft für Gott.

Der Sieg Michaels über das Böse hat den Erzengel wohl so beliebt gemacht. Das Buch Daniel schildert ihn als Schutzpatron des Volkes Israel. Vermutlich deshalb kommt Michael als Männername schon im Alten Testament vor. Später haben weitere Völker den Erzengel Michael als ihren Schutzpatron verehrt, nämlich Deutschland, England, Frankreich und Spanien.

Die biblischen Berichte klingen, als sei der Erzengel Michael eine Gestalt aus einer alten Legende. Ich meine das nicht abschätzig; auch Legenden drücken Wirklichkeit aus. Vieles, was legendär oder gar erfunden klingen mag, kann gut geeignet sein, die Wirklichkeit zu verstehen und sich miteinander zu verständigen -- so auch die Engel. "Wir können das Ausgesagte nur wiedergewinnen, wenn wir den legendären Charakter zugeben." (Westermann S.31)

Heute ist Gedenktag nicht nur des Erzengels Michael, sondern aller Engel. Was feiern wir dabei? Hören wir dazu den vorgeschlagenen Predigttext aus dem Hebräerbrief (1,7.13-14).

Die Engel sind also "dienstbare Geister". Sie sind für die Menschen da, damit sie zum Heil kommen, das heißt, damit ihr Leben gelingt oder, wie Jesus sagt, damit sie Leben in Fülle haben. In der Bibel kommen auch Schutzengel von Personen vor, auch Schutzengel ganzer Gemeinden (Offb 2,1). Wir dürfen sicherlich bedenken, ob wir uns nicht auch schon beschützt gefühlt haben, zum Beispiel, als jemand uns half, gut zu entscheiden oder wieder Lebensmut zu finden.

Die meisten Engel in der Bibel arbeiten im Auftrage Gottes, und zwar für die Menschen, wie es im Predigttext heißt: ausgesandt zum Dienst um derer willen, die das Heil ererben sollen. Sie tun, was Gott auch selber tut. Sie sind stark, sie heilen und retten. Die Bibel erwähnt allerdings auch Engel des Satans (Mt 25,41; Offb 12,7). Ein Engel ist ein Diener, ein Bote manchmal.

Die Bibel sagt wenig oder nichts über das Wesen der Engel als solche. Manche Engel in der Bibel dienen nur dazu, Gottes Majestät zu unterstreichen. Andere Engel treten als Boten Gottes auf, tun ihren Dienst und sind dann verschwunden. Sie sind sozusagen identisch mit ihrem Dienst. "Es gibt sie", das kann man nur so lange sagen, wie sie gerade dienen.

Unser Predigttext sagt: Gott hat die Engel wie Wind gemacht und wie Feuer. Engel wirken also kräftig, mit Macht, mal hier und mal dort. Da hat es keinen Sinn, zu fragen "Was macht der Wind, wenn er nicht weht?", oder "Wohin geht das Feuer, wenn es ausgeht?", oder "Was machen die Engel, wenn sie ihren Dienst getan haben?" Die Bibel gibt nicht den Stoff her für eine tiefsinnige Seinslehre von den Engeln. Gott hat die Engel wie Wind gemacht und wie Feuer.

Die Engel sind dienstbare Geister, hörten wir aus dem Hebräerbrief. Was sind sie, Geister? Heißt das, sie seien Gespenster? Nein, keine Gespinste, nichts Ersponnenes. Aber man darf wohl sagen: Sie sind Wesen aus einer anderen Welt.

Was stellen wir uns unter einer anderen Welt vor? Das ist eine schwierige Frage, und sie hat direkt mit den Engeln zu tun, und noch mehr mit Gott.

Welchen Sinn kann überhaupt das Reden von einer anderen Welt haben? Das hängt ganz davon ab, wie so eine andere Welt in unsere Welt hinein wirkt, auf unser Denken, Fühlen, Reden und Tun.

Viele Menschen, denen Gott völlig egal ist, benutzen das Wort "Gott" trotzdem ab und zu aus Gewohnheit. Noch mehr Menschen, welche die Engel für eine bloße Erfindung halten, sprechen von Engeln. Ein Beispiel: Im zweiten Weltkrieg wurde der Düsenantrieb für Flugzeuge erfunden. Vorher gab es nur die rüttelnden Kolbenmotoren. Nach dem ersten Probeflug, ganz ohne Rütteln, sagte der Testpilot: "Als wenn ein Engel dich schiebt." Ein Engel hinterm Jagdflugzeug? Aber jeder versteht, was er meint: etwas Außerordentliches, vorher kaum Vorstellbares, etwas Übermenschliches.

Engel sind Wesen aus einer anderen Welt. Sie sind Gott nahe. Die andere Welt ist die Welt dessen, was uns möglich ist, die Welt dessen, was uns begegnen kann; mehr noch, sie ist die Welt dessen, der uns begegnen kann, und sie ist die Welt dessen, was wir selber tun können. Diese Welt ist für uns alle erlebbar, wir gestalten sie mit, sie ist kein abstraktes Jenseits. Uns kann etwas begegnen, was uns verändert und uns neue Möglichkeiten eröffnet. So etwas kann uns auch ins Gewissen reden.

Kommt unser Gewissen auch aus einer anderen Welt oder ist es eine Stimme von innen? Ich sehe da keinen großen Unterschied. Das Gewissen ruft uns zu verantwortungsvollem Handeln auf. Gott und die Engel tun genau das.

Hören wir noch einmal auf den Predigtext.

In diesem Text geht es gar nicht zuerst um die Engel, sondern um Christus. Der Verfasser des Hebräerbriefes bezieht das Psalmwort "Setze dich zu meiner Rechten" auf Christus. Er will sagen, Christus ist viel höher als alle Engel, er steht ganz auf der Seite Gottes.

Es ist schon seltsam: Unsere Kirche feiert einen Gedenktag zu Ehren aller Engel, aber der Predigtext, den sie dafür vorschlägt, setzt die Engel zurück hinter Christus. Warum? Weil Gott selbst Christus erhöht hat, höher als die Engel.

So viel direkt zum Predigtext. Mich lässt das immer unbefriedigt, wenn ein vorgegebener Abschnitt nur Christus lobt oder Gott lobt, aber wenig oder nichts von dem sagt, was uns geschenkt ist und was wir tun sollen. Ich versuche deshalb, beide Aussagen zu verbinden, zum einen "Engel sind Wesen aus einer anderen Welt" und zum andern "Christus ist höher als die Engel".

Ich sagte vorhin: Die andere Welt ist die Welt dessen, was uns möglich ist, die Welt dessen, was uns begegnen kann; und es ist die Welt dessen, was wir selber tun können. Niemand hat uns diese Welt besser nahe gebracht als Jesus. Wir brauchen dafür nur an drei große Gleichnisse zu denken: Der Vater nimmt seinen verlorenen Sohn freudig auf; der Samariter sieht mit dem Herzen und hilft; die - so gut wie tote - Ehebrecherin bekommt ein neues Leben geschenkt. So hat Jesus Wege zu erfülltem Leben aufgezeigt, das wir dann haben, wenn wir unseren Beitrag zum Leben anderer leisten. Anders ausgedrückt: Wenn wir unseren Mitmenschen zum Engel werden.

Wir feiern heute den Erzengel Michael und alle Engel. Alle Engel, das sind nicht nur die Engel im Himmel. Wir feiern auch die Engel, die vom Himmel kommen und den Menschen Gutes eingeben und damit Menschen zu Engeln Gottes machen. Wir feiern die Engel, die uns helfen oder sich uns in den Weg stellen, wenn wir in Gefahr sind, Falsches zu tun. Sie helfen uns, anderen Menschen ein Engel zu sein, manchmal nur für kurze Zeit, manchmal, ohne dass wir es selber merken.

Lassen Sie mich schließen mit vier Strophen von Rudolf Otto Wiemer.
Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, ...


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten