Schafe ohne Hirten, Ernte und zuwenige Arbeiter

Predigt zu Matthäus 9,35-10,7 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 17. Juni 2001, 1. Sonntag nach Trinitatis


Der Predigttext für heute steht beim Evangelisten Matthäus, Kapitel 9,35 bis 10,7.

Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende. Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, daß sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus; Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn verriet. Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.

Der Text klingt vordergründig wie ein Bericht über Beobachtungen und Taten Jesu, sein Mitleid und seine Aufforderungen. Aber was Matthäus hier schreibt, ist selbst eine Predigt. Matthäus predigt seinen Mitchristen, was ihnen geschenkt ist an heilenden Kräften und was sie tun sollen für das geplagte Volk. Genau das hat Martin Luther später über das Predigen geschrieben: Jede Predigt soll sagen, was uns geschenkt ist und was wir tun sollen. (Zitiert nach Albrecht Schönherr, Horizont und Mitte.)

Was ist den Jüngern geschenkt? Jesus gab ihnen Macht über die unreinen Geister, daß sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. Das ist sicherlich etwas übertrieben, so wie die Aussage am Anfang: Jesus ging in alle Städte und Dörfer und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen.

Ich höre aus diesem Übertreiben das Staunen des Matthäus darüber heraus, was Jesus und seine Jünger alles an Gutem tun konnten. Das war keine Zauberei, das waren Gnadengaben. Diese Gaben waren zunächst den Jüngern Jesu geschenkt. Aber wenn das Geschenk nur die ersten Jünger Jesu betroffen hätte, dann hätte Matthäus eine Generation später kaum so engagiert davon berichtet.

Er ist überzeugt, dass auch die Anhänger Jesu in seiner Zeit dieselben Gaben bekommen haben und denselben Auftrag, nämlich zu beten, Kranke zu heilen und die gute Nachricht vom Reich Gottes zu verkünden, kurz, all das fortzusetzen, was Jesus angefangen hatte. Und wenn unsere Kirche diesen Text als Predigttext vorschlägt, dann will sie uns heute an dieselbe Arbeit schicken, ebenso wie damals Matthäus seine Zeitgenossen.

Aber kann diese alte Predigt des Matthäus uns heute noch etwas sagen? Hat unser modernes Leben in den Städten, haben moderne Technik und Wohlstand weiter Kreise etwas gemeinsam mit dem Leben, das Jesus und seine Jünger damals antrafen, geprägt von Ackerbau und Viehzucht, von Armut und Unwissenheit vieler Menschen?.

Zuerst einmal können sie uns sensibel machen, unsere Aufmerksamkeit schärfen, uns ähnlich wach machen, wie Jesus war. Als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.

Hunger und Durst waren zur Zeit Jesu ganz real, waren wirkliche Lebensgefahr. Trotzdem vermute ich, Matthäus meinte das "verschmachtet und zerstreut" nicht nur körperlich, also Krankheit und materielle Armut oder das Umherirren in der Hitze, sondern er meinte mindestens ebenso die seelische Not. Jesus war erschüttert von solcher Not, die Not der anderen ging ihm unter die Haut, sie jammerte ihn. Matthäus meinte beides, die leibliche Not der Menschen und die Orientierungslosigkeit. Und beides gibt es heute noch.

Auch in unserem wohlhabenden Holzlar sehe ich Not, die sich mit dem vergleichen lässt, was Matthäus schildert. Ich denke dabei an Streit, Sucht, Krankheit, kleine und große Unfälle und Behinderungen, körperlichen Schmerz, nahendes Sterben, Einsamkeit. Da sind Menschen, die sich aussprechen möchten und niemanden haben, der ihnen zuhört. Da sind Menschen, die sich selbst im Weg stehen und die ihre Mitmenschen vergraulen, so dass ihnen niemand helfen kann, nicht einmal ein ausgebildeter, erfahrener Seelsorger.

Es gibt auch Menschen, die zu stolz sind, andere um Hilfe zu bitten. Sie helfen selber gern, bitten aber ungern andere um Hilfe, obwohl diese ihnen doch sehr gern helfen würden.

Ich denke auch an die Not, die erst aus dem Wohlstand kommt. Ich meine nicht, dass Kinder alles haben sollten, was eine rücksichtslose Werbung ihnen vorschreibt oder was gerade Mode ist, aber wenn sie nicht die richtigen Turnschuhe haben, werden sie gehänselt: drei Streifen Adidas, zwei Streifen Caritas. Kinder können nicht mit auf Fahrt gehen, weil die Eltern sich schämen und deshalb das Geld dafür nicht beim Förderverein der Schule oder bei der Diakonie abholen. Das gibt es leider recht häufig. Wie so oft, sind Kinder die Leidtragenden. Da ist es für sie schwer, Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Leben ist auch heute nicht leicht, wo bei uns keiner mehr hungern oder dürsten muss. Nur, man sieht die Not in der Nähe nicht so leicht. Die Not in der Kriegsgebieten wird uns ins Wohnzimmer geliefert, die im Nachbarhaus nicht, da müssen wir selber hingehen. Es gibt Schicksale in Holzlar, da können mir die Worte im Munde stecken bleiben, so schwer hat es manche Menschen getroffen.

Aber sehen muss man die Not. Das Volk jammerte ihn -- darauf kommt es hier an. Die Erschütterung Jesu angesichts von Menschen "ohne Hirten" ließ in ihm das Bild von der Ernte aufsteigen: Er allein kann sie mit seinen Jüngern nicht einbringen, darum lädt er die Jünger ein, mit ihm zu beten: Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende.

Die Not ist da, aber sie ist nicht leicht zu sehen, und nicht jeder, dem sie vor Augen kommt, sieht sie mit dem Herzen. Die vielen, vielen Berichte über Verbrechen, Unglücksfälle und Not können uns zusätzlich abstumpfen. Es kommt alles darauf an, jetzt sensibel zu bleiben für unsere Mitmenschen, wie Jesus damals.

Ein oft unterschätztes Hindernis für diese Wahrnehmung ist der Neid. Ich höre es nicht selten: Die Aussiedler und die Ausländer kriegen es ja vorne und hinten reingesteckt, und ich muss dafür die Steuern zahlen. Die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger arbeiten ja alle noch schwarz nebenbei, denen geht es ja besser als mir. Solcher Neid kann blind machen für die Lage der Mitmenschen um uns.

Die Ernte ist bei Matthäus ein Bild für den Anbruch des Gottesreiches. Wenn Jesus lehrte und heilte, dann war das etwas von dem erfüllten Leben, das wir erwarten. Wenn die Jünger predigten und heilten, dann zeigten sie, wie das Gottesreich aussehen soll. Wir können das Gottesreich auf Erden nicht machen, aber wir alle können wenigstens ein Stück davon zeigen. Das Leben anderer zu fördern, das ist sinnvolles Leben, das ist Freude. Dafür will Jesus Mitarbeiter werben und Matthäus ebenso. Gesucht werden aber nicht überforderte Einzelkämpfer, sondern eine Gemeinde, die sich die Arbeit teilt!

Es gibt Menschen, die erklären Ihnen, dass sie sich nur für sich und ihre Familie einsetzten. Wenn man genauer hinschaut, stimmt das gar nicht, sie sind auch hilfsbereit gegenüber Fremden. Ein bisschen merkt ja jeder Mensch, dass es Freude macht, anderen zu helfen. Ich erlebe Menschen, die zwar behaupten, andere sollten sich selber helfen, die aber doch hilfsbereit sind, wenn sie Not sehen.

Mir scheint, die kleine Nachbarschaftshilfe ist wichtig. Ich sehe Stellen, an denen sie ganz fantastisch funktioniert, und ich sehe Menschen, denen sie bitter fehlt, nicht nur für praktische Dinge, sondern auch gegen Einsamkeit.

Manche jungen Leute sehen so aus, als suchten sie nur Spaß für sich selbst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Spaß einen Menschen auf Dauer befriedigt. Sind solche Menschen verirrt, abgeirrt vom sinnvollen Leben, vom Leben in Fülle? Das haben wir nicht zu beurteilen, zumindest nicht für andere. Und so schlimm ist es meistens gar nicht. In jemandem, der wild auftritt, steckt oft ein sensibler Suchender.

Das Leid der Menschen, ihre Orientierungslosigkeit, ihre Suche gingen Jesus unter die Haut. Und was tut er? Er behebt nicht selbst die Not, sondern er spricht zu seinen Jüngern: Bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende. Dann gibt er den Jüngern die Kraft, den Menschen zu helfen, und sendet sie an die Arbeit.

Das Bild von der Ernte steht also nicht für das Einfahren von Erfolgen, nicht für das Mitgliederwerben, sondern für den Anbruch des Gottesreiches, das in Jesus schon aufgeschienen ist und das überall da stückweise aufscheint, wo Menschen so handeln wie Jesus. Biblische Hoffnung für die Endzeit, für das Endgültige, etwas davon scheint jetzt schon auf. Diese Hoffnung ist es, die wir Christen denen voraus haben, die ohne Christus Gutes tun.

Aus der Predigt des Matthäus höre ich als Summe heraus: Geht unter die Menschen und lebt das Reich Gottes und lasst andere daran teilhaben. Er sagt damit dasselbe, was Paulus den Galatern (6,2) so sagte: Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten