Gott will nicht den Tod des Schuldigen

Predigt zu Ezechiel 33,10-16 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 6. Februar 2000, 5. Sonntag nach Epiphanias


Gott spricht: So wahr ich lebe, ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt. So schreibt der Prophet Ezechiel.

Der Satz ist gerichtet an das Volk Israel fast 600 Jahre vor Christus. Ein großer Teil des Volkes, darunter die gesamte Führungsschicht, ist verschleppt worden, ist nun gefangen in Babylon. Dort geht es den Verschleppten schlecht bis zur Verzweiflung. Das Volk klagt, dass die Strafe für seine Vergehen und Sünden so hart ist. Das Volk sieht sein eigenes Versagen als Ursache seiner Lage.

Der heutige Predigttext in Ezechiel 33 ist beim ersten Hören nur mit Mühe zu verstehen. Der ganze Text ist eine wörtliche Rede Gottes an Ezechiel. Einige Male sagt Gott dem Ezechiel: Sag das Folgende weiter an das Volk Israel, und dann kommt das, was Ezechiel weitersagen soll. Auf diese Klage antwortet Gott mit drei Aussagen, und diese sind der Kern der Sache. Ich nenne vorweg kurz diese drei Aussagen.

Noch etwas schwieriger wird das Hören, weil der Text im Wechsel vom Gerechten handelt, der Unrecht tut, und vom Schuldigen, der auf seinem bösen Weg umkehrt. Damit Sie solchem Wechsel leichter folgen können, werde ich die Wörter "der Gerechte" und "der Schuldige" am Beginn einer Aussage betonen. Noch etwas Schwieriges: Das erste der Worte Gottes an Ezechiel für Israel ist ein Zitat, eine Klage des Volkes Israel selbst; Ezechiel soll also dem Volk Israel dessen eigene Klage zurück sagen. -- Ich lese aus Ezechiel 33 ab Vers 10 (bis 16) eine Rede Gottes.

Du aber, Menschensohn, sag zum Haus Israel: Ihr behauptet: Unsere Vergehen und unsere Sünden lasten auf uns, wir siechen ihretwegen dahin. Wie sollen wir da am Leben bleiben?

Sag zu ihnen: So wahr ich lebe -- Spruch Gottes, des Herrn --, ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt. Kehrt um, kehrt um auf euren bösen Wegen! Warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel?

Du aber, Menschensohn, sag zu den Söhnen deines Volkes: Den Gerechten wird seine Gerechtigkeit nicht retten, sobald er Böses tut. Und der Schuldige wird durch seine Schuld nicht zu Fall kommen, sobald er sein schuldhaftes Leben aufgibt.

Der Gerechte aber kann trotz seiner Gerechtigkeit nicht am Leben bleiben, sobald er sündigt. Wenn ich zu dem Gerechten sage: Du wirst am Leben bleiben!, er aber im Vertrauen auf seine Gerechtigkeit Unrecht tut, dann wird ihm seine ganze (bisherige) Gerechtigkeit nicht angerechnet. Wegen des Unrechts, das er getan hat, muß er sterben.

Wenn ich aber zu dem Schuldigen sage: Du musst sterben!, und er gibt sein sündhaftes Leben auf, handelt nach Recht und Gerechtigkeit, gibt (dem Schuldner) das Pfand zurück, ersetzt, was er geraubt hat, richtet sich nach den Gesetzen, die zum Leben führen, und tut kein Unrecht mehr, dann wird er gewiss am Leben bleiben und nicht sterben. Keine der Sünden, die er früher begangen hat, wird ihm angerechnet. Er hat nach Recht und Gerechtigkeit gehandelt, darum wird er gewiss am Leben bleiben.

Bei diesem Text kommen mir viele Fragen.
Die erste Frage: Wie kommt Ezechiel dazu, eine wörtliche Rede Gottes aufzuschreiben?

Ezechiel berichtet genau, wie er zum Propheten berufen wurde und was er dafür erleiden musste. Er hat seinen Auftrag sehr intensiv erlebt. Er hat ihn direkt als Wort Gottes erfahren, sich von Gott angesprochen gefühlt, den Anspruch Gottes gespürt. Deshalb hat er das Erfahrene als wörtliche Rede Gottes aufgeschrieben. Er zeigt damit, dass er seine Aussagen nicht selber erdacht, sondern empfangen hat. Heute würde wohl kaum einer von uns sagen: "Das und das hat Gott mir gesagt". Hier haben wir einen Anlass zur Besinnung. Kommt es trotzdem vor, dass wir etwas als unbedingte Forderung an uns erfahren, und sind wir darauf gefasst, dass so etwas von Gott kommen kann?

Die nächste Frage (2): Was heißt hier "am Leben bleiben", was heißt hier "sterben"?

Die Juden in der Gefangenschaft konnten Leben und Sterben hier ganz wörtlich verstehen, als Überleben und als Umkommen. Die siegreiche Armee der Babylonier hatte große Teile des jüdischen Volkes verschleppt, vor allem die Arbeitsfähigen. Da gab es Tote und Verwundete, da hatte man Mühe, wenigstens zu überleben. Die Juden fürchteten, in dieser Verbannung umzukommen.

Das ganze Volk fühlte sich schuldig an seiner Misere. Es sah die Niederlage als Strafe Gottes für seine Untaten an. Das Volk Israel hat immer wieder seine Misserfolge und sein Leiden als Folge seines Abfalls von Gott verstanden.

Der Prophet Ezechiel spricht die Menschen in seinem Volk einzeln an. Er erwähnt nun als erster solche Strafe auch für den Einzelnen. Das Wort des Ezechiel ist an jemanden gerichtet, der verzweifelt und sagt: Auch ich habe schlimme Fehler begangen, mein Leben ist verpfuscht, Gott kann mich nur noch verwerfen. Selbst wenn ich äußerlich noch lebe, mein Leben hat keinen Sinn mehr.

Ein Leben nach dem Tode war zu Ezechiels Zeiten nicht im Blick. Eine Auferstehungshoffnung gab es noch nicht. Nichts spricht dafür, dass Ezechiel mit dem Wort "leben" so etwas gemeint haben könnte.

Mir kommt aber vom Neuen Testament her eine zusätzliche Bedeutung von "leben" in den Sinn: das heile Leben, das erfüllte Leben hier auf Erden. Erfülltes Leben, das war für das Volk Israel das Leben mit seinem Gott. Nur die Gemeinschaft mit ihm und untereinander war auch Erfüllung für den Menschen. Wer ohne Rücksicht auf andere lebt, mag dabei vordergründig Spaß haben, aber kann doch nicht glücklich sein. Mitarbeit am Aufbau der Gemeinschaft macht viel mehr Freude, kann Erfüllung bringen.

Wenn ich nicht sicher bin, ob etwas richtig ist, das ich tue oder vielleicht tun will, hilft mir die Überlegung: Wem dient das, was ich da mache?

Die nächste Frage (3): Wer ist ein Schuldiger oder ein Gottloser oder ein Sünder im Sinne Ezechiels, und wer ist gerecht?

Das Wort "der Gottlose" steht für eine verkehrte Haltung des ganzen Menschen, auch wenn er vielleicht religiös ist. "Der Gottlose" ist jemand, der das falsche Leben gewählt und Unrecht getan hat. Der da gerettet wird, gibt (dem Schuldner) das Pfand zurück, ersetzt, was er geraubt hat, er richtet sich nach den Gesetzen, die zum Leben führen, und tut kein Unrecht mehr.

Es geht also um beides, die Haltung und das Handeln. Man kann es nicht gut trennen, die Haltung und das Tun. Gerecht ist also der, der Gottes Weisungen hört und befolgt.

Eins ist sicher: Keiner von uns darf einen anderen als gottlos einstufen oder sich über ihn erheben. Davor warnt uns auch das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, das wir vorhin gehört haben.

Da bleibt eine Frage zum Nachdenken: Müssen wir uns nicht immer wieder Urteile über andere Menschen bilden, schon um zu entscheiden, für wen wir Zeit haben und für wen nicht?

Die nächste Frage (4): Geht es wirklich allen Schuldigen schlecht, und geht es allen, die sich bekehren, gut?

Bei Ezechiel stehen da sehr bestimmte Worte, aus denen man genau das folgern könnte, ähnlich einem Naturgesetz.

Wir dürfen den Propheten Ezechiel aber nicht mit den Augen eines heutigen Juristen oder Mathematikers lesen. Auch zu Ezechiels Zeiten wusste man schon, dass es nicht allen Bösen schlecht geht und allen Guten gut. Mehrere Psalmen klagen vor Gott, dass es dem Übeltäter gut gehe und dem Gerechten schlecht.

Wir mögen uns fragen: Wie kann Ezechiel trotzdem behaupten, dass es allen Guten gut gehen wird und ebenso denen, die sich zu Gott bekehren? Gibt es eine Belohnung für das Gute, oder hat das Gute seine Belohnung in sich selbst?

Die vorletzte Frage (5): Was wollen Gott und Ezechiel erreichen mit den drei Aussagen?

Gott sagt den Menschen hier seine guten Absichten zu. Der Mensch wird nicht festgelegt durch die Summe seiner vergangenen Taten, sondern durch die Einladung Gottes zum rechten Leben.

Gott hat keine Freude am Scheitern seiner Geschöpfe, hat keine Schadenfreude. Gott will, dass das Leben gelingt. Er lädt uns ein, alles, was unser Gewissen belastet, zum Anlass eines neuen Anfangs zu nehmen. Luther hält dieses Wort Ezechiels für "evangelischen Klang und süßesten Trost" für klägliche Sünder.

Ezechiel erinnert aber auch an das Umgekehrte: Wer sich keiner Schuld bewusst ist, sollte sich seiner Sache nicht allzu sicher sein. Es kann jeden Tag passieren, dass wir versagen, wo unsere Liebe zu Gott oder zum Mitmenschen gefragt ist.

Fragen wir uns: Worin werde ich Gott oder einem Mitmenschen nicht gerecht? Welches frühere Versagen kann ich wieder gutmachen? In welchem wunden Punkt meines Lebens wollte ich schon lange einen Neuanfang wagen?

Die letzte Frage (6): Ezechiel schrieb vor über 2500 Jahren für das Volk Israel; gilt das, was er schrieb, auch heute für uns?

Diese Frage ist so oder ähnlich bei jedem biblischen Text angezeigt. Hier ist sie besonders einfach zu beantworten. Auch bei Jesus findet sich durchgängig der Ruf zur Umkehr vom bösen Weg mit der Zusage der Vergebung. Jesus rühmt die liebende Aufnahme des verlorenen Sohnes, der seine Gaben vertan hat und sich dann bekehrt. Er ist sich darin mit Ezechiel völlig einig.

Deshalb sage ich Ihnen das Leitwort des Sonntags noch einmal.
Gott spricht: So wahr ich lebe, ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten