Viele Glieder, ein Leib

Predigt über 1. Korinther 12,12-14.26-27 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 20. Oktober 2002


Der Predigttext für heute steht im 1. Brief an die Korinther, Kapitel 12.

Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt. Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit. Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied.

Das ist ein schöner, ein anschaulicher Vergleich: Menschen in einer Gemeinschaft verhalten sich zueinander wie die Glieder eines Leibes. Der Vergleich ist so einfach, dass er unmittelbar überzeugt. Er ist so schön und liegt so nahe, dass er schon lange vor Paulus bekannt war, und zwar in Rom. Fast 500 Jahre vor Christus haben die Plebejer, die Menschen für die niedrigsten Arbeiten, gestreikt und sind ausgewandert. Nach der Sage soll Menenius Agrippa sie wieder zum Arbeiten bewegt haben, indem er sagte: Wenn Arme und Beine nicht mehr für den Magen arbeiten wollen, dann geht es ihnen noch schlechter, als wenn sie schwer arbeiten.

Paulus wird diese römische Sage gekannt haben, er war ja ein gebildeter römischer Staatsbürger. Natürlich will Paulus mit diesem Bildwort keine Ausbeutung der ohnehin Benachteiligten rechtfertigen. Im Gegenteil, er betont die Ehre der Geringen.

Vor allem will er den Christen in Korinth helfen, ihre Spaltungen zu überwinden. Die einen haben diese Gaben, die anderen haben jene Fähigkeiten. Die einen werden in Leitungsämter gewählt, andere können schnell und zuverlässig das tun, was die begabten Planer nur denken können.

Paulus sagt nun: Eure Gaben, so verschieden sie auch seien, der Art nach und auch der Menge nach, sind alle von Gott. Ihr seid mit Gottes Geist beseelt. Wo die christliche Kirche lebt, da lebt sie wie ein Leib mit verschiedenen Gliedern. Ihr alle zusammen seid, bildlich gesprochen, der Leib Christi. Zusammengefügt und verbunden seid ihr durch die Taufe. Wer getauft ist, gehört voll zur Gemeinschaft, hat dieselbe Würde wie jede und jeder andere Getaufte.

Gemeinschaft ist hier das Schlüsselwort. Die vielen Glieder an einem Leib sind ein anschauliches Bild für die lebendige Gemeinschaft Verschiedener. Unter Christen soll also es keine Rangfolge geben, keine Hierarchie, das heißt keine "heilige Herrschaft" der einen über die anderen. Das ist natürlich ein Ideal, ein schwer erreichbares Fernziel, eine Richtung, in der man sich dauerhaft bemüht.

Auch in der Kirche gibt es Vorgesetzte und Untergebene. Die Interessen der kirchlichen Arbeitgeber und die Bedürfnisse der Arbeitnehmer müssen immer neu ausgeglichen werden. Die Menschen sind unvollkommen, Paulus sah das natürlich auch und will mit seinem Brief helfen, Spannungen zwischen Christen aufzuarbeiten. Paulus ist hier weniger ein praktischer Ratgeber, sondern er folgert das notwendige Verhalten aus dem Glauben an Christus.

Die Kirche bezeichnet ihre Arbeit als Dienstgemeinschaft. Wenn es unter Christen keine Hierarchie gäbe, brauchte man hier keine Arbeitsverträge und keine Dienstvorgesetzten. Es gibt Gegensätze in jeder Gemeinschaft, es menschelt überall. Paulus will die Gegensätze fruchtbar machen.

Die wenig beachteten Glieder in der Gemeinschaft mögen die bekannten beneiden, die machtlosen die mächtigen. Ich kann solchen Neid auch verstehen. Die einen werden geehrt, die anderen nicht. Bertolt Brecht sagt: "Doch man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht."

Die einen sind reich begabt, sind tüchtig, haben Glück dazu und schaffen sich Reichtum. Bei anderen trifft alles zusammen: Sie sind wenig begabt, bauen Unfälle wie ein Pechvogel und werden dann auch krank. In der Sozialarbeit ist es deutlich zu sehen: Ein Unglück kommt selten allein.

Aber Neid hilft nicht weiter, das weiß man seit Kain und Abel. Paulus sagt dagegen, die im Dunkeln sollen sich mit den Geehrten freuen, weil alle zusammengehören. Jede und jeder hat die volle Menschenwürde, das ist schon im Alten Testament gesagt und von dort über die christlichen Gemeinden in manche Staatsverfassungen gelangt, so auch in unser Grundgesetz.

Die Achtung der Menschenwürde ist entscheidend von der kleinsten Gemeinschaft, ich nenne das Ehepaar, über die Familie oder die Arbeitsgruppe im Betrieb, über die Kirchengemeinde, den Staat bis hin zur größten Gemeinschaft, der Menschheit. Daran erinnern uns die Schwachen und die Geschlagenen. Sie haben also eine wichtige Aufgabe am Leib Christi, um im Bilde des Paulusbriefes zu bleiben.

Besonders schön sieht man die Gemeinschaft in den vielerlei Gottesdiensten, bei denen Gemeindegruppen mitwirken: der Kindergarten, der Kinderchor, der Chor, die Konfirmanden, die Eine-Welt-Gruppe, der Ökumene-Kreis, die Kindergottesdienstgruppe, der Flötenchor, der Folklorechor, der Folklore-Tanzkreis, mit unserer Gemeinde verbunden auch das Kammerorchester -- wen habe ich vergessen? Da ist oft viel mehr vom Geist zu spüren, als wenn einer allein vorne fast alles macht.

Wir sind der Leib Christi, wir sollen es nicht etwa werden. Deshalb ist uns Christen das soziale Tun selbstverständlich. Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts. Man könnte sagen, Diakonie und Kirche sind zwei Seiten derselben Medaille. Aber schon die Urgemeinde war durch drei Dinge gekennzeichnet: das Zeugnis für Jesus Christus, die Armenpflege und die Gemeinschaft. Für uns müsste man also eine Medaille mit drei Seiten erfinden. Dem Apostel Paulus geht es hier um das dritte Merkmal, die Gemeinschaft.

Es gibt keinen christlichen Glauben ohne Gemeinde. Nach Paulus ist nicht einmal die Ortsgemeinde der Leib Christi, sondern erst alle Getauften zusammen, in der bewohnten Welt. Bewohnte Welt, das ist die Bedeutung des Wortes "Ökumene".

Paulus schrieb seinen Brief nur an die Gemeindeglieder in Korinth. Das, was er hier schreibt, gilt aber für alle Getauften, in Korinth oder in Bonn-Holzlar oder anderswo. Und es gilt nicht nur für Menschen, mit denen wir schlecht auskommen. Schlimmer noch ist die Gleichgültigkeit: Wie gehen wir hier am Ort mit getauften Aussiedlern und Ausländern um? Lassen wir sie links liegen? Auch sie sind Glieder am Leib Christi.

Paulus nennt erst die Glieder und dann den Leib. Der entsteht durch die Taufe; nicht wir machen Christus sichtbar. Der Geist Christi will in uns wirken, in unserer Gemeinschaft.

Wir können nicht von uns aus den Leib Christi darstellen oder Christus als Leib. Deshalb haben wir nichts zu fordern, haben uns nichts bei Gott zu verdienen, sondern wir haben zu empfangen und zu danken.

Gemeinschaft ist immer Vielfalt, jeder bereichert die anderen, achtet auf die Schwachen. Rücksicht zeigt sich besonders bei der Gemeinschaft im Leiden. Im Leiden bewährt sich der Glaube, im eigenen Leiden und im Umgang mit dem Leiden der Mitmenschen.

Gott hat manche Menschen überreich begabt, bei anderen muss man die wenigen Gaben erst suchen. Auch zum Beachten und Fördern der wenigen Gaben ermuntert und Paulus. Jeder möge seine Gaben an seinem Platz einbringen. Und vor allem möge jeder den anderen achten! Man kann Christen daran erkennen, dass sie alle anderen Menschen wertschätzen. Ich finde es faszinierend, dass ein Kölner Pfarrer einem Buch, das er geschrieben hat, den Titel "Kennzeichen Wertschätzung" gab.

Die Gemeindeglieder ohne Amt sind ebenso wichtig wie die mit Amt. Um Sie alle im Sinne des Paulus zu ehren, schließe ich mit einem Wort von Wilhelm Stählin:

... es lohnt sich, darüber nachzudenken, dass ein Mensch zwar weiter leben kann, wenn er so 'vornehme' Gliedmaßen wie Auge oder Hand verloren hat, aber nicht ohne die in der Leibeshöhle verborgenen Organe wie Niere oder Darm. Der Lebensbestand der Kirche hängt nicht an Pfarrerspersönlichkeiten mit den bekannten Namen, sondern sicherlich viel mehr an den Stillen und Namenlosen und Getreuen, die im Verborgenen beten, Bibel lesen und Liebe üben.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten