Wir sind Gottes Kinder

Predigt in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 25. Dezember 2005, Christfest, 1. Feiertag, 1. Joh 3, 1-6


Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Der Predigttext für den ersten Weihnachtsfeiertag ist ein Stück aus einer schwierigen theologischen Abhandlung. Der Briefschreiber, Johannes der Evangelist, will die Christen im Glauben stärken, will sie ermuntern zum neuen Leben in Christus. Er sagt uns, wofür Jesus erschienen ist, und zieht daraus klar und deutlich, sogar drastisch die Folgerungen. – Ich lese aus dem 1. Johannesbrief vom Kapitel 3 die Verse 1 bis 6, und ich gliedere den Text in drei Teile.

– Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, daß wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht.

– Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.

– Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. Und ihr wißt, daß er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.

– Johannes schreibt: Wir sind schon Gottes Kinder. Das ist ein schönes Bild. Das Bild lädt ein, darin zu schwelgen, mit weiteren Bildern, auch mit weihnachtlichen Bildern von Familie und Schutz für die Kinder und Bescherung und kindlicher Neugier und Freude.

Aber wenn ich es recht sehe, geht es hier im 1. Johannesbrief gar nicht um unmündige, sondern um erwachsene Kinder. Das Wort Kinder bezeichnet hier nur die Beziehung zu den Eltern, hat nichts damit zu tun, ob die Nachkommen ersten Grades noch klein oder schon groß sind. In diesem Sinne sind meine erwachsenen Kinder immer noch meine Kinder, obwohl sie längst keine Kinder mehr sind. Wir gehören zu Gott, wie erwachsene Kinder zu ihren Eltern gehören, eng verbunden und zugleich frei und eigenverantwortlich.

Wenn Johannes uns Christen hier Gottes Kinder nennt, geht es ihm, wenn ich recht sehe, nur um unser Verhältnis zu Gott dem Vater, um ein besonders enges Verhältnis, wie bei einer gelungenen und reichen Beziehung zwischen einem Vater und seinen Kindern – oder ebensogut zwischen einer Mutter und ihren Kindern. Johannes betont unser enges und lebendiges Verhältnis zu Gott.

Wir sind schon Gottes Kinder. Ein Sohn Gottes zu sein war im Alten Testament ein Kennzeichen des Königs, des Gesalbten oder Messias, des Retters seines Volkes. Laut Psalm 2 sprach Gott zum neu gesalbten König: Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt. Im 2. Samuelbuch (7,14) findet sich das Verständnis, Gott erwähle den neuen König als seinen Sohn, er adoptiere ihn. So oder so: Es war ein königliches Privileg, Kind Gottes zu sein.

Der Evangelist und Briefschreiber Johannes spricht nun dieses königliche Vorrecht allen glaubenden Christen zu. Er verwendet zwar die Bezeichnung "Sohn Gottes" nur für Jesus Christus. Aber er nimmt alle Christen mit hinein in die königliche Stellung Jesu Christi, des Kindes Gottes schlechthin. So sagt Johannes denn auch, daß wir in Christus bleiben.

Im Neuen Testament ist schon vor Johannes von Menschen als Gottes Kindern die Rede, nämlich in der Bergpredigt. In der Bergpredigt sagt Jesus: Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. So spricht Jesus im Matthäus-Evangelium. Johannes aber geht gleich dreifach darüber hinaus, wenn er sagt: Alle Christen, nicht nur die Friedfertigen, heißen Gottes Kinder, und sie heißen schon jetzt so, und sie sind Gottes Kinder!

Das ist zunächst einmal ein großes Wort, ein Bild. Aber es hat Folgen. Ein Christ ist – laut Johannes – so verschieden von der Welt, daß die Welt ihn nicht kennt, nicht als ihresgleichen ansieht. Die Welt kennt uns Christen nicht, weil sie Gott nicht kennt. Vielleicht will Johannes sagen, ein Christ ähnele jetzt schon mehr Gott dem Herrn als der Welt, und jeder Christ führe ein makelloses Leben. Dann ist der Christ natürlich von der Welt und von den anderen Menschen stark verschieden.

Johannes fordert seine Leser auf, ihre neue Würde zu erkennen und anzuerkennen. Die Christen gehören jetzt schon zu Gott, heißen seine Söhne und Töchter und sind es. Diese Gotteskindschaft besteht nicht von Natur aus. Sie kann uns nur geschenkt werden. Dafür ist Jesus erschienen.

Genau dasselbe schreibt auch Paulus den Galatern (4,4f): Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. Erst seit Jesus dürfen Menschen Gott mit "Vater", sogar mit "Papa" anreden.

– Der zweite Abschnitt unseres Textes schlägt den Bogen zu unserer Zukunft. Johannes sagt uns Großes an. Er schreibt: Wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.

Die eine Richtung kennen wir: Gott ist Mensch geworden, ist in Jesus erschienen, das feiern wir zu Weihnachten. Derselbe Johannes läßt in seinem Evangelium Jesus sprechen: Wer mich sieht, der sieht den Vater! (14,9) und sogar Ich und der Vater sind eins. (10,30)

Gott ist Mensch geworden, und wir Menschen sollen – umgekehrt – eines Tages Gott gleich werden. Das ist noch nicht offenbar geworden, aber Johannes beschreibt es jetzt schon als künftige Wirklichkeit. Wir werden einmal Gott schauen, nachdem wir in unserem Leben täglich nach ihm Ausschau gehalten haben, zum Beispiel im Lesen der Heiligen Schrift oder auch in der respektvollen Begegnung mit Menschen. Einmal werden wir nicht nur vom Glanz göttlicher Herrlichkeit hören, sondern sie sehen, sagt Johannes, und dann sollen wir Gott gleich werden.

Gott gleich werden, das heißt im Schöpfungsbericht "wissen, was gut und böse ist". Hier im 1. Johannesbrief heißt es viel mehr, nämlich ohne Sünde sein. Wie wir dorthin gelangen können, das beschreibt der dritte und letzte Abschnitt.

– Johannes schreibt etwa so: Wer diese Hoffnung, diese Zuversicht hat, der reinigt sich von der Sünde, vom Unrecht, der versucht, so zu leben wie Jesus. Jesus, das ewige Wort des Vaters, ist auf die Erde gekommenen, um uns zu befreien von der Sünde, vom Unrecht, von der Gottferne. Unrecht ist immer ein Zeichen dafür, daß wir Gott noch nicht in uns aufgenommen haben.

Johannes fährt fort, noch stärker:: Wer in ihm, in Christus, bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt. Das ist kaum zu glauben, aber drei Verse später steht Ähnliches: Wer aus Gott geboren ist, der tut keine Sünde; denn Gottes Kinder bleiben in ihm und können nicht sündigen; denn sie sind von Gott geboren.

Das ist eine Sprunglatte, die für uns sterbliche Menschen ein paar Meter zu hoch ist. Johannes muß das gewußt haben. Er schreibt ja selbst am Anfang dieses Briefes: Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. (1. Joh 1,8f) Und er fährt versöhnlich fort: Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.

Nur mit diesen beiden Versen zusammen ist der Schlußsatz unseres Textes erträglich: Wer in ihm, in Christus, bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.

Wir sündigen nicht? Nicht, daß wir keine schlechten Taten mehr vollbrächten. So weit hat es nicht einmal der Apostel Paulus gebracht. Aber wer sich durch Jesus als Kind Gottes weiß, weiß sich auch geborgen und befreit für kräftige Taten in Gottes Weinberg, ohne Angst vor Fehlern und in der Gewißheit der Vergebung nach Fehlern. Luther sagt: Sündige kräftig, aber noch kräftiger glaube und freue dich in Christus! Wie kleine Kinder fest glauben, der Vater wird es richten, er wird sie aus allen Schwierigkeiten herausholen, was auch immer sie ausfressen, ebenso dürfen wir als Kinder Gottes des guten Endes sicher sein.

Ich denke, Johannes hätte unsere Bußgebete mitsprechen können: Ich habe Gutes unterlassen und Böses getan. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken durch meine Schuld. Johannes wird dieselbe Erfahrung gemacht haben wie Paulus, der seufzte: Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. (Röm 7,19)

Und doch schreibt Johannes hier diesen Satz: Wer in ihm, Christus, bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt. Ich versuche das so zu deuten: Wer der Sünde gegenüber nachlässig ist, wer sich kleine, läßliche Verstöße erlaubt, also wissentlich Unrecht tut, der hat von Christus nichts begriffen. Bei Lukas (16,10) sagt Jesus: Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu; und wer im Geringsten ungerecht ist, der ist auch im Großen ungerecht. Ich denke, der 1. Johannesbrief will hier sagen: Wer von Christus ergriffen ist, der ist verwandelt, der weiß sich als Gottes Kind, der lebt frei von Angst, der ist nicht wiederzuerkennen, weil die Zwänge der Welt zurücktreten hinter der Liebe zu Gott, zu Christus, zum Mitmenschen. Wer in Christus ist,

Das alles läßt sich mit einem Wort des Apostels Paulus so zusammenfassen: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (2. Kor 5,17)

Ich habe bei diesen Überlegungen einen Satz mittendrin ausgelassen, der lautet so: Und ihr wißt, daß er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. So kommt Weihnachten im Predigttext vor, auch ohne die anschaulich erzählende Schilderung im Lukas-Evangelium, und so kommt der Predigttext ins Weihnachtsfest. Jesus ist erschienen und will uns eine große Hilfe sein, geistlich und auch in unserem Wahrnehmen, Verstehen und Handeln. Weihnachten ist Zeit, um ihm, mehr als sonst, dafür zu danken, ihm dafür zu singen, ihn dafür zu beschenken, indem wir einander beschenken, und – nicht zuletzt – ihm unsere Sehnsucht auszudrücken, Gott zu schauen, wenn unser Leben hier zuende geht.

Mit dem Weihnachtsfest feiern wir das Erscheinen Jesu in einer tief zerrissenen, heillosen Welt – und damit den Beginn einer radikalen Verwandlung: Nicht das Unrecht, das Menschen anrichten, behält des letzte Wort, sondern die Heilung, die Jesus ins Werk setzt.

Äußerlich ist nach Weihnachten anscheinend alles so wie vorher. Aber in uns wird vieles anders und besser, wenn wir uns ganz auf Christus verlassen und ihn in unserem Innern wachsen lassen. Das wird auch nach außen sichtbar, für die Welt, wie Jesus im Johannes-Evangelium spricht (13,35): Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.

 


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten