Gott ist die Liebe

Predigt in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 14. Juni 1998 (1 Joh 4,16b-21)


Liebe Gemeinde: Bis zum vorigen Sonntag hatten die Sonntage Namen. Ab heute sind sie durch Zahlen gekennzeichnet, vom ersten Sonntag nach Trinitatis heute bis zum 21. Sonntag nach Trinitatis am 1. November. Was ist eine Zahl? Die Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten. Jahrtausende lang haben Menschen mit Zahlen gerechnet, ohne daß irgend jemand wußte, was eine Zahl ist.

Mit Gott ist es ähnlich wie mit den Zahlen. Man weiß nicht genau, wer oder was Gott ist, aber man rechnet mit ihm, und viele Menschen bezeugen, daß sie zuverlässige Ergebnisse bekommen. Zahlen vieler Art kann man seit Anfang dieses Jahrhunderts gut definieren. Aber wie definiere ich "Gott"? Das ist gar nicht so einfach. Trotzdem ist es wohl eher wichtiger, Gesichertes über Gott zu wissen als über die Zahlen.

Ein Gemeindeleiter oder Presbyter in einer Gemeinde Kleinasiens ums Jahr 105 nach Christus ist mutig genug, in einem kurzen und kühnen Satz zu sagen, wer Gott ist: Gott ist die Liebe. Dieser Satz steht gleich am Anfang des Predigttextes für heute. Ich lese aus dem ersten Johannesbrief den Schluß des vierten Kapitels (16b-21), und ich teile dabei den Text in drei kleine Abschnitte.
-- Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
-- Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, daß wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.
-- Laßt uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und haßt seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? Und dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, daß er auch seinen Bruder liebe.

Eine Frau aus unserer Gemeinde sagte mir: Gott ist für mich nicht eine Person, sondern eine Kraft. Unser Text sagt: Gott ist die Liebe. Auf den ersten Blick paßt das gut zusammen. Die Liebe ist jedenfalls eine Kraft, die viel bewegt, Menschen begeistert, Unmögliches möglich macht. Also: Gott ist auch eine Kraft, auch eine Kraft im Menschen.

Der zweite Blick muß schon nachschauen, in welchem Zusammenhang der Satz in der Bibel steht. Der Satz Gott ist die Liebe steht am Anfang des für heute vorgeschlagenen Predigttextes. Gleich nach diesem Vers wechselt das Thema. Der Vers steht also, wenn Sie wollen, isoliert da. Deshalb könnten wir versucht sein, ihn als Definition zu benutzen. Johannes -- damit meine ich den oder die Verfasser des Johannesevangeliums und des 1. Johannesbriefes -- Johannes will uns aber die Wahrheit eher wie ein Dichter sagen, nicht als eine Aussage der systematischen Theologie. Johannes schreibt an anderen Stellen: Gott ist Geist (Joh 4,24) und Gott ist Licht (1 Joh 1,5). Hier steht also: Gott ist die Liebe. Ich würde eher etwas vorsichtiger sagen: Eine herausragende Eigenart Gottes ist die Liebe. Aber Johannes sagt mutig: Gott ist die Liebe.

Pfarrer Henning Theurich von der Bonner Kreuzkirche schreibt, dieser Vers sei die Zusammenfassung der vorangehenden Verse. (Predigtstudien, Kreuz-Verlag, 1986) Ich gebe Theurich recht, gegen die Redakteure, die unsere Lutherbibel in Sinnabschnitte aufgeteilt haben. Unser Vers bekommt einen viel genaueren Sinn durch einen Vers, der vor dem Predigttext steht und den ich Ihnen vorhin als Antwort auf Ihr Kyrie eleison zugesagt habe: Darin besteht die Liebe: nicht, daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung unserer Sünden.

Zuerst kommt also Gottes Liebe zu uns. Unsere Liebe kommt später, ist davon abgeleitet. Zuerst empfangen wir viel. Erst das macht es uns möglich, stark zu lieben und viel zu geben.
-- Das gilt zum einen ganz weltlich für Kinder, die viel Liebe von ihren Eltern empfangen haben: Sie haben es später leichter, andere Menschen von Herzen zu lieben.
-- Zum anderen gilt das für die geistlichen Gaben. Zuerst erfahren wir die frohe Botschaft Jesu, und daraus erfahren wir, was uns Menschen alles möglich ist an Begeisterung und Gottesliebe und Nächstenliebe.

Gott liebt uns, das klingt abstrakt, abgehoben. Woran kann man überhaupt merken, ob das stimmt? Hier im ersten Johannesbrief wird das konkretisiert: Gottes Liebe hat sich darin gezeigt, daß er uns Jesus Christus gesandt hat. Menschen sind begeistert, vom Geist erfüllt, durch die Botschaft Jesu, und sie erkennen, daß die Botschaft von Gott kommt und der Botschafter auch. Die Zeugnisse des Glaubens im Neuen Testament und viele Zeugnisse unserer Mitmenschen heute zeigen uns, welche Kraft die Liebe sein kann. Gott ist die Liebe.

Der zweite Abschnitt unseres Textes hat als Kern den Satz: Furcht ist nicht in der Liebe. Hier ist Furcht vor Gottes Gericht und Strafe gemeint, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht: Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, daß wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.

Hier geht es nicht mehr um die Liebe Gottes zu den Menschen, hier geht es um die Liebe der Menschen zu Gott. Diese Liebe sei frei von Furcht. Zuversicht ist das, was Johannes hier empfiehlt. Zuversicht ermutigt zu Offenheit und Freimut und Hoffnung, ist also das glatte Gegenteil von Furcht.

Man hat dem Christentum vorgeworfen, daß es den Menschen Angst mache vor der Hölle. Ich muß zugeben: Im Evangelium für den heutigen Sonntag, in der Beispielerzählung vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Lk 16,19-31), wird die Hölle recht anschaulich geschildert. Die ersten drei Evangelien warnen vor dem Endgericht. Aber das Befreiende der Botschaft Jesu ist doch viel stärker ausgeprägt im Neuen Testament, besonders bei Johannes:

Im Johannesevangelium (5,24) sagt Jesus: Wer mein Wort hört / und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Im ersten Johannesbrief (3,14) steht: Wir wissen, daß wir aus dem Tod ins Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder. Wer nicht liebt, der bleibt im Tod. Fast kann man sagen, laut Johannes sei das Endgericht schon gelaufen.

Auch der dritte und letzte Abschnitt des Predigttextes hat einen Kernsatz. Fettgedruckt steht in unserer Bibel der letzte Vers: Dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, daß der auch seinen Bruder liebe.

Hier steht das Wort Gebot,das klingt nach Moral. Aber Johannes begründet das Gebot ganz anders: Laßt uns lieben, denn er, Gott, hat uns zuerst geliebt. Johannes betont nicht das Gebot, er möchte die Gläubigen begeistern, mitreißen aus einem kühlen, unbeteiligten Verhalten zum Mitchristen hinein in ein geschwisterliches, familiäres Miteinander. Die Liebe zu Gott und die zu den Brüdern und Schwestern dürfen einfach nicht auseinanderklaffen.

Die geschwisterliche Liebe gilt also nicht zuerst denen, die uns Gutes tun, und nicht nur den Benachteiligten, Zukurzgekommenen, all denjenigen, die anders sind als wir selber. Gottes Liebe gilt sogar den bösen Menschen, und deshalb unsere geschwisterliche Liebe auch. So sagt Luther in einer Predigt zum selben Text: Wer aber will ein Christ sein, der muß sich des trösten, daß nicht anders gehen kann noch soll, weil Gott selbst also gehet, und muß tun wie ein guter Apfelbaum, der seine Früchte jedermann darbietet und offen trägt und streut auch unter die Säu und bösen Tier, die ihn zerreißen. (Nachschrift vom 21.7.1532, zitiert nach Theurich, a.a.O)

Alle drei Beziehungen von Liebe, die Liebe Gottes, die Liebe zum Mitmenschen und etwas versteckt auch die Liebe zu Gott, finden wir in einem Bericht von Norbert Herkenrath, bis zu seinem Tode im Mai 1997 der Leiter des katholischen Hilfswerks Misereor und vorher Pfarrer in Brasilien. Von dort berichtet er. ("Gegen den Pessimismus", ISBN 3-88916-160-X, Misereor, Aachen 1998, S. 28f)

Einmal wurde ich zu einer Sterbenden gerufen. Etwa 20 Kilometer weit von meinem Pfarrhaus entfernt im Buschland gelangte ich zu einer armseligen Strohhütte. In einer Hängematte mitten in der Hütte lag eine etwa 28jährige Frau, die dem Tod entgegensah. Schon vier Jahre, so erzählte sie mir, lag sie in der Hängematte. Ich schaute mich um in der Hütte. Außer der Hängematte nur zwei Schemel und die Feuerstelle. Und an der Wand säuberlich aufgerollt die Hängematte des Mannes und zwei Matten für die Kinder. Die Hütte war sauber aufgeräumt, der Lehmboden gekehrt. Ich fragte den Mann, der etwa gleich alt war wie seine Frau: Wer räumt denn die Hütte auf? -- Ich, war die Antwort. Und wer kocht und versorgt die beiden Kinder? -- Ich, sagte der junge Mann. Wer badet und pflegt die Kranke? Wieder lautete die Antwort: Ich. Dieser einfache Mann, der nicht lesen und schreiben konnte, der Tag für Tag hart arbeiten mußte, um dem kargen Boden in der Hitze nahe dem Äquator ein bißchen Mais und Bohnen abzuringen -- der hatte noch die Kraft, seine Frau zu pflegen, seine Kinder zu versorgen. Kein Wunder, daß die Kranke ruhig und gelassen dem Tod entgegensah. Sie wußte ihr Haus bestellt, sie hatte in ihrem kurzen Leben das erfahren, was viele vergeblich suchen -- ein Herz voll Treue und Liebe!

Und dann gab mir dieser einfache Mann eine ganz wesentliche Lehre mit -- eine Lehre, die ich nie vergessen werde. Er sagte mir beim Abschied: Padre, es war nicht immer leicht, hier zu bleiben. Manchmal träumte ich von einem anderen Leben draußen in der Stadt, ohne den Hunger, ohne das tägliche Elend, die kranke Frau, die weinenden Kinder. Aber ich bin meiner Frau treu geblieben, weil ich sie liebe. Und da habe ich mir oft gesagt: Wenn du das fertig bringst, der du doch klein und schwach bist, wieviel mehr muß Gott uns dann lieben, da er doch so groß und mächtig ist.

Dieser Landarbeiter folgert aus seiner Liebe, daß Gottes Liebe noch größer ist. Unser Predigttext sagt uns, daß sie zuerst da war, daß wir lieben können, weil wir Liebe empfangen haben.

Dieser Landarbeiter hat Gott sichtbar gemacht, gegenwärtig in seiner Hütte. Gott ist die Liebe, und wir können Gott sichtbar machen für unsere Mitmenschen, wenn wir die Mitmenschen lieben.

Ich fasse zusammen:

  1. Gott ist die Liebe, seine Liebe ist sichtbar geworden in Jesus, der seine Mitmenschen geliebt und gefördert hat, besonders die Benachteiligten.
  2. Furcht ist nicht in der Liebe, und wenn wir Gott fürchten, ernst nehmen, dann können wir zuversichtlich, vertrauensvoll und offen zu Gott und zu den Mitmenschen sein und brauchen das Endgericht nicht zu fürchten.
  3. Wer Gott liebt, der liebe auch seine Mitmenschen, und wie Jesus die Benachteiligten geliebt und gefördert hat, können auch wir sie lieben oder zumindest fördern, und das schon aus Dankbarkeit für alles, was jeder und jede von uns empfangen hat.

Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten