Höre, Israel

Predigt über 5. Mose 6,4-9 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 2. Juni 2002, 1. Sonntag nach Trinitatis


Der Predigtext für heute steht im 5. Buch Mose im Kapitel 6.

4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein.
5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen
7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.
8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein,
9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

Dieser Text gehört zum heiligsten Gut der Juden. Jeder gläubige Jude betet das "Höre, Israel" täglich. Schon die Anrede "Höre, Israel" sagt: Dieses Gebot ist zuerst an die Juden gerichtet und nicht an uns. Es gehört uns nicht, aber es betrifft uns auch.

Wenn ich mit Ihnen darauf vertraue, dass Jesus uns mit hinein genommen hat in das Heil für die Juden, dann gilt der Ruf auch uns. Auch wir sind Volk Gottes, auch wir sind zum Hören gerufen.

-- Trotzdem: Dieser Text ist zuerst Eigentum des jüdischen Volkes. Er ist Gebot und Gebet und Glaubensbekenntnis. Er hält das jüdische Volk zusammen. Das verpflichtet uns Christen, mit diesem Text so umzugehen, dass ein Jude unter meinen Zuhörern keinen Anstoß daran nehmen müsste.

Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Wo in Martin Luthers Übersetzung das Wort "HERR" in Großbuchstaben gesetzt ist, steht im Urtext der Eigenname Gottes. Jeder Jude hört das sofort mit. Denn wenn ein Jude aus seiner Bibel liest und dort auf den Gottesnamen trifft, liest er laut "der Herr", so wie Luther übersetzt hat. Kein gläubiger Jude spricht den Gottesnamen aus.

Für uns Christen gibt es hier leider einige Verwirrung. Die Bezeichnung "der Herr" war zu alttestamentlichen Zeiten dem Schöpfer vorbehalten. Wo im Neuen Testament "der Herr" steht, ist manchmal Jesus Christus gemeint und manchmal Gott der Vater.

Im Zeitalter von Naturwissenschaft und Technik verlangen die Menschen aber mit Recht klare Begriffe und eindeutige Benennungen, zumindest da, wo es leicht möglich ist.

Deshalb freue ich mich, dass die Einheitsübersetzung der Bibel den Eigennamen Gottes stehen lässt und nicht umschreibt. Wenn wir Gott lieben sollen und ihn sogar "Abba" nennen, also "Papa", wie Jesus sagt, dann dürfen wir auch seinen Namen aussprechen. Wenn wir uns ihm, dem Vater, zuwenden wollen, müssen wir nicht fürchten, damit seinen Namen zu missbrauchen. Dann lautet der erste Satz unseres Predigttextes so:

Höre, Israel! Jahwe ist unser Gott, Jahwe allein.

Erst einmal erinnert der Name "Jahwe" an die Zusage Gottes an Mose und das Volk für die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten: Der Name bedeutet etwa: Ich bin für dich da, ich bin bei dir, du darfst mit mir rechnen, du sollst dich auf mich verlassen.

Höre, Israel! Jahwe ist unser Gott, Jahwe allein.

Das heißt auch: Jahwe ist der Gott Israels. Der da mit der Autorität des Mose spricht, der ruft: Andere Völker und Städte mögen andere Götter haben, Israel aber hat nur Jahwe und soll nicht anderen Göttern dienen. Dieser Ruf richtet sich gegen die Götter in der Umgebung der Juden. Hier haben wir das Wort "Gott" ganz klar als Gattungsbegriff. Trotzdem reden wir unseren Gott einfach als "Gott" an, als gäbe es nur einen. Die Bibel spricht aber an vielen Stellen von mehreren Göttern.

Im Psalm 96,5 und anderswo (1.Chr 16,26) steht: Denn alle Götter der Völker sind Nichtse, der HERR aber hat den Himmel gemacht. Das ist natürlich ein großes Lob für den Gott Israels. Diesen kühnen Satz habe ich im Ohr, wenn wir Israels Gott, der zugleich unser Gott ist, einfach "Gott" nennen und mit "Gott" anreden, als wäre dieser Titel sein Eigenname. Es gibt andere Götter, aber die sind nichtige Götzen oder "Nichtse".

Höre, Israel! Jahwe ist unser Gott, Jahwe allein.

Das ist mit etwas anderen Worten das erste Gebot, zumindest so, wie Luther es für den Kleinen Katechismus zusammengefasst hat: Ich bin der HERR, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.

Wir, die wir durch Jesus zu Jahwes Volk gehören, sollen nichts anderes verehren oder fürchten als Jahwe allein. Auf einem der Holzlarer Wegekreuze in der Paul-Langen-Straße steht es so geschrieben: Keine Macht der Welt muss ich fürchten. Paul Langen, dem dies Wegekreuz gewidmet ist, hat unter den Nationalsozialisten für solchen Mut gelitten und ist dafür zu Tode gekommen. Aber als Christ hat er keinem anderen Gott oder Führer dienen wollen als nur Jahwe.

So grobe Mächte fordern uns heute nicht heraus. Aber die kleinen Götter sind allgegenwärtig, viele zweitwichtige Dinge, die gern unsere Götter sein möchten: Geld, Macht und Ruhm, Auto, Fußball oder Formel 1, seinen Wohlstand zeigen, Schlankheit, Jungsein und Wohlbefinden, Spaß und Trubel. Vielleicht haben Sie schon den neudeutschen Jargon vermisst, mit dem diese Dinge uns besetzen wollen, sich bei uns einschleichen: Wellness, Fun, Events und Action.

Alle diese Dinge können und dürfen zu unserer Freude dienen, aber als Götter machen sie nicht frei, sondern machen abhängig. Jahwe zu lieben macht frei und selbständig und verantwortlich. Erfolg auf Erden ist nicht garantiert, wie bei Paul Langen. Jahwe zu lieben macht nur frei von Furcht und frei fürs Zeugnis für Gott und für das Leiden. Wir haben die Wahl, ob wir für Wichtiges, Gültiges, Dauerhaftes frei sein wollen oder für Zweitwichtiges.

Schon ganz weltlich ist es ein Zeichen von Reife, kleinen Verzicht für größere Ziele zu leisten. Welche großen Ziele sehen wir, und worauf sollten wir dafür sinnvollerweise verzichten?

Ich bewundere Menschen, die beruflich Großes leisten und dabei nicht völlig ihr Privatleben opfern, dabei noch Mensch bleiben. Hier ist ein ständiges Abwägen angezeigt. Wenn man einem großen Ziel alles opfert, dann wird dieses Ziel zu einem Gott.

Wenn unser Ziel wirklich mit dem Himmelreich vergleichbar ist, dann sollten wir dafür alles einsetzen, das sagen uns die Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der Perle. Aber die Opfer, die manche Menschen für Zweitwichtiges bringen, zum Beispiel für ihren Sieg im Spitzensport, scheinen mir Götzendienst zu sein.

Woran kann man erkennen, ob ein Ziel zweitwichtig ist oder dem Anspruch Gottes entspricht, nur ihm zu dienen? Was ist das Kriterium? Wir haben zumindest drei große Aussagen über Gott.

Höre, Israel! Jahwe ist unser Gott, Jahwe allein. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.

Du sollst lieben. Kann man das gebieten? Du sollst deine Eltern ehren, man kann diesem Gebot folgen. Aber was fange ich an mit dem Gebot "du sollst deinen Gott lieben"?

Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich v. Weizsäcker sagt in einer Vorlesung über die innere Geschichte des Menschen (GdN, Kap. 12): Der Wille kann aus eigener Kraft einzelne gute Taten tun, aber die Liebe kann er sich nicht geben. Weder die Liebe zum Mitmenschen noch gar die Liebe zu Gott.

Trotzdem können wir hoffen. Weizsäcker fährt fort: Wenn wir ihre Möglichkeit einmal erfahren haben, so bleibt in uns das, was Gewissen genannt wird. Wir wissen dann, dass wir ohne die Liebe das Entscheidende versäumen. Sie selbst kommt von der objektiven Möglichkeit, von Gott her, und wir erfahren sie, wenn sie kommt, als Gnade. Dass sie uns gegeben werden kann, ist der ganze Inhalt der christlichen Lehre von der Erlösung. Sie wird uns selten gegeben, ehe wir in der Verzweiflung über uns selbst um sie gebeten haben.

Können wir also nur auf die Gnade warten, auf die Wohltat Gottes für uns also? Nein, ganz gewiss nicht. Wir können danken für das, was uns bisher schon geschenkt wurde. Wir können den Raum frei halten, damit die Gnade Platz bei uns findet, wenn sie kommen will. Wir können uns damit vertraut machen, wie es aussieht, wenn sie kommt. Wir können lesen und hören, wie es anderen Menschen erging, wenn die Gnade kam. Wir können tun, was solche Menschen empfehlen. Wir können zuerst die Dinge tun, die in den Geboten stehen.

Wir können vor allen Dingen verhindern, dass andere Götter unser Inneres besetzt halten. Auch wenn der Vergleich unziemlich klingen mag: Die Liebe zu Gott hat manche Ähnlichkeit mit der Liebe zwischen Mann und Frau. Eine Frau verlangt den Mann ganz. Irgendwelche Alltagsdinge dürfen da nicht zwischenkommen. Im 5. Buch Mose steht: Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott. Wir hören heute:

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.

Das verbindet Juden und Christen. Das ist das stärkste Band zwischen ihnen. Jesus, gefragt nach dem höchsten Gebot, nennt zuerst das "Höre, Israel".

Die Juden sollen sich dieses Gebot auf die Hand und an die Stirn und an die Türpfosten binden, um immer daran zu denken und damit sich nichts anderes vordrängen kann. Menschen brauchen Hilfsmittel. Wir Christen haben dafür das Kreuz als Zeichen. Jedes Kreuz will uns erinnern: Jesus hat Gott so sehr geliebt, dass er für ihn und für uns sein Leben eingesetzt und sein irdisches Leben verloren hat. Möge der Geist Gottes uns bewegen, Gott so zu lieben wie er uns.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten