Das Reis aus dem Baumstumpf Isais

Predigt zu Jesaja 11,1-9 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 26. Dezember 2000, Christfest, 2. Feiertag
(Zweite Fassung, Sankt Augustin-Hangelar am 7. Januar 2001)


"Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art". So fängt eins unserer beliebtesten Weihnachtslieder an.

Die zweite Strophe des Liedes erklärt das Wort von der Rose als ein Bildwort: "Das Blümlein, das ich meine, davon Jesaja sagt, hat uns gebracht alleine Marie, die reine Magd". Mit der Rose aus der Wurzel meint der Dichter des Liedes also Jesus.

"Das Blümlein, davon Jesaja sagt": Die Stelle, wo der Prophet Jesaja etwas Ähnliches sagt, ist der Predigttext für heute. Das Lied bezieht sich deutlich auf diesen Jesaja-Text.

Im Lied heißt es "Von Jesse kam die Art". Jesse ist eine alte Schreibweise von Isai, und Isai ist der Vater König Davids. In den ersten drei Evangelien wird Jesus als Sohn Davids bezeichnet, und dann ist er erst recht ein Sohn Isais.

Im Lied entspringt eine Rose aus einer Wurzel. Im Text bei Jesaja geht aus einem Baumstumpf oder einer Wurzel ein Zweig hervor. Nicht nur für den Liederdichter, auch für Jesaja ist das ein Bildwort, denn er spricht vom Zweig aus dem Baumstumpf Isais, und deshalb kann er mit dem Zweig nur einen Menschen meinen, einen Nachkommen Isais. Jesaja hat dabei einen Grund, nicht den bekannteren David zu nennen, sondern dessen Vater Isai.

Natürlich konnte Jesaja um 740 vor Christi Geburt noch nichts von Jesus wissen. Ob unser Lied vielleicht allzu kühn ist, ob wir den Zweig bei Jesaja wirklich auf Jesus beziehen dürfen, wie das geht und was das heute bedeuten kann für uns Christen, das bleibt zu klären.

Ich lese nun aus dem Buch Jesaja den Anfang von Kapitel 11 (1-9), und ich bitte Sie, diesen Text aus dem Alten Testament zu vergleichen mit dem, was Sie über Jesus wissen.

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN.

Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.

Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.

So weit der Text aus Jesaja. Die erste Hälfte des Textes sagt einen Nachkommen Isais voraus. Ich sehe mindestens zwei Gründe, warum wir den vorhergesagten Nachkommen Isais nicht einfach mit Jesus gleichsetzen dürfen, wie das Lied von der Rose das tut.

Jesaja schreibt über den künftigen Nachkommen Isais: ...er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Es ist aber nicht überliefert, dass Jesus jemanden getötet hätte. Das würde auch gar nicht passen zu dem, was die Evangelisten über Jesus berichten. Jesus hat vor allem Menschen auf den rechten Weg geführt, aber es steht nirgends geschrieben, dass er jemanden getötet hätte. "Sanftmütigkeit ist sein Gefährt", singen wir in einem Adventslied, und als "sanftmütig" bezeichnet Jesus sich selbst, im Matthäus-Evangelium.

Der zweite Grund: Die beiden vorangehenden Verse bei Jesaja geben unserem Text einen ganz anderen Sinn. Sie machen ihn zu einer Warnung an den Nachkommen Davids, der zu Jesajas Zeit in Jerusalem regiert. Jesaja warnt seinen König, Gott könnte das ganze davidische Königtum verwerfen und abhacken wie einen Baum und bei Davids Vater neu beginnen, bei Isai nämlich. So eine Warnung an einen Zeitgenossen Jesajas, den König Ahas, können wir wirklich nicht direkt als eine Vorhersage für gut siebenhundert Jahre später deuten.

Ein Prophet ist ja nicht jemand, der die Zukunft vorhersagt, kein Wahrsager oder Astrologe. Ein Prophet ist jemand, der eine nötige Wahrheit öffentlich ausspricht, mal eine tröstende und aufmunternde, mal eine unbequeme Wahrheit. Weil zu einer unbequemen Wahrheit auch die späteren Folgen menschlichen Tuns gehören, hat die Prophetie auch den Beiklang von Prophezeiung bekommen.

Dieser Jesaja-Text war damals für den König Ahas eine unbequeme Wahrheit mit einer bösen Prophezeiung. Es war eine Warnung, dass er und sein ganzes Königtum weggefegt und durch einen guten König und Richter ersetzt werden könnten.

Der Text ist aber zugleich eine ergreifendes Wort von der Sehnsucht der Menschen nach der guten Herrschaft Gottes. Gottes Zusage seiner Herrschaft ist eine tröstende Wahrheit. Und auch diese tröstende Wahrheit steht in unserem Text.

Unsere Kirche schlägt diesen Jesaja-Text als Predigttext für den zweiten Weihnachtstag vor und bezieht ihn schon durch diesen Termin auf Jesus. Auch wenn Jesaja nicht Jesus vorhergesagt hat, ist dieser Bezug berechtigt, denn es gibt mindestens ein gemeinsames Thema, das ist die Königsherrschaft Gottes, im Evangelium auch als Reich Gottes übersetzt.

Jesaja schreibt über den künftigen Nachkommen Isais: Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. So kennen wir Jesus. Er hat Menschen in ausweglosen Situationen gerettet, so dass die Umstehenden in ihm Gottes Geist und Gottes Kraft erkannten.

In unserer Zeit, wo das Erwerbsleben uns fesseln will und Zerstreuung sich breit macht, wo mancher Ungeist sich stark fühlt, auch der in Bomberjacken und Springerstiefeln, heute wieder erinnert uns Jesajas Prophetie an den "Geist der Weisheit und des Verstandes", den "Geist des Rates und der Stärke", und mehr noch, an den "Geist des HERRN", den "Geist der Erkenntnis des HERRN" und den "Geist der der Furcht des HERRN". Es genügt nicht, dass wir in der Welt mit unserer eigenen Weisheit gut zurecht kommen. Es kommt mehr darauf an, dass wir Gott erkennen und als maßgeblich für uns erkennen.

Jesaja schreibt weiter: Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande. "Den Armen Gerechtigkeit", das ist auch das Motto eines kirchlichen Hilfswerks. Wenn wir uns für Bedürftige einsetzen, ist das nur gerecht, noch keine gute Tat, nur einfach das, was Gott von uns will. Ähnlich dem Rechtsanspruch auf Sozialhilfe darf ein Mensch vom anderen Hilfe erwarten, ganz ohne Gegenleistung. Gerechtigkeit bei Gott schließt immer die Barmherzigkeit mit ein.

Und dann steht in unserem Text noch ein eindrucksvolles Bild für die Zukunft, das Bild vom Tierfrieden. Dieser Frieden unter den Tieren widerspricht allem, was schon Jesaja über die Natur wusste. Jesaja schreibt: Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter.

Das klingt wie ein Märchen, wie eine Illusion oder ein schöner Traum. Es ist wirklich Poesie, und der Schlüssel dazu steht im nächsten Satz: Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt. Also nicht nur der Spross Isais wird voll Erkenntnis des HERRN sein, sondern das ganze Land, sogar die Tiere.

Ich denke, Jesaja wird gewusst haben, dass seine Visionen vom Nachkommen Isais und vom Tierfrieden so klingen, als wären sie nur Wunschdenken. Auch Jesus ermuntert dazu, Unmögliches für möglich zu halten; er sagt: Warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Und er sagt weiter: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Ist das nicht genauso Idylle oder Wunschdenken wie der Tierfriede bei Jesaja, und die Wirklichkeit ist ganz anders?

Jesus weist uns auf vieles, was uns utopisch erscheinen mag und das wir doch wünschen und anstreben und oft auch erreichen. Wer dem Schöpfer vertraut, den Jesus uns als liebenden Vater geschildert hat, und den neuen Wegen vertraut, die Jesus uns gezeigt hat, und dem Geist Gottes vertraut, den auch Jesaja beschreibt, für den wird Unmögliches möglich.

Ich möchte Sie einladen, mit der Utopie vom Tierfrieden in Jesaja 11 darüber nachzudenken, welche Rolle Utopien für unser Leben und unseren Glauben spielen. Wo ist unser Glaube illusionär, wo konstruktiv? Wir müssen Spinnerei vom Geist Gottes unterscheiden, und das kann manchmal schwierig sein. Jesus nennt uns neue Wege, die wir allzu oft gar nicht erst erwägen: Nicht zurückschlagen? Mich nicht verteidigen, sondern den Angreifer verblüffen durch Großzügigkeit? Liebevoll an einen Menschen denken, der mich schlecht gemacht hat?

Oft hilft eine der scheinbar utopischen Zusagen Jesu. Und solches Verhalten, solches Vertrauen auf die neuen Wege kann die Welt so verändern, dass wir sie gar nicht wiedererkennen. Ein Friede entsteht dann zwischen den Menschen so unerwartet wie bei Jesaja der Friede zwischen den Tieren. Ich vertraue darauf: Auch aus dem Baumstumpf, für den manche unsere Kirche ansehen, werden noch viele kleine Zweige wachsen, Nachfolger Jesu, auf denen der Geist des Herrn ruht.

Ich schließe mit einem Vers aus dem Lied, das wir gleich singen (EG 395): Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt! Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten