Der Knecht Gottes im Leiden

Predigt zu Jesaja 50,4-9 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 16. April 2000, Palmsonntag


Der Predigttext für heute steht beim Propheten Jesaja. Dessen Buch steht in der Mitte der Bibel, und im mittleren Teil dieses Buches stehen vier liedähnliche Stücke. Man nennt sie die Lieder vom Gottesknecht.

Der Predigttext für heute ist das dritte dieser vier Lieder. Darin spricht ein Prophet über seine Zurüstung durch Gott, über seine Aufgabe, seinen Gehorsam, seine Leiden, seine Zuversicht und sein Vertrauen zu Gott. Man hat dieses Lied deshalb einen "prophetischen Vertrauenspsalm" genannt. Ich lese aus Jesaja 50 (4-9).

Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers, damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort. Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück. Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen, und denen, die mir den Bart ausrissen, meine Wangen. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel. Doch Gott, der Herr, wird mir helfen; darum werde ich nicht in Schande enden. Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel; ich weiß, daß ich nicht in Schande gerate. Er, der mich freispricht, ist nahe. Wer wagt es, mit mir zu streiten? Laßt uns zusammen vortreten! Wer ist mein Gegner im Rechtsstreit? Er trete zu mir heran. Seht her, Gott, der Herr, wird mir helfen. Wer kann mich für schuldig erklären? Seht: Sie alle zerfallen wie ein Gewand, das die Motten zerfressen.

Das mittlere Stück des Buches Jesaja mit den vier Liedern vom Gottesknecht entstand etwa 550 bis 540 Jahre vor Christus, in der Zeit der Gefangenschaft des Volkes Israel in Babylon. Es ist ganz auf Zärtlichkeit und Trost gestimmt. Er fängt schon mit Zuspruch an: Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Die Sprache ist einfach und frisch. Der Prophet verkündet eine frohe Botschaft und macht dem Volk Mut.

Das Wort Gottesknecht ist im Bibeltext selbst begründet. Am Anfang des ersten Liedes spricht Gott (42,1): Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen.

Ein sehr altes deutsches Wort für Knecht ist das Wort Schalk. Heute, und spätestens sei Goethe, hat das Wort eine andere Bedeutung. Trotzdem: Das Wort Schalk bedeutete ursprünglich nur Knecht und Sklave. Das Bonner Telefonbuch hat etwa 30 Einträge mit dem Namen Gottschalk, also Gottesknecht. Anscheinend nahmen unsere Vorfahren den Propheten Jesaja sehr wichtig.

Das Wort Knecht ist eine Berufsbezeichnung. Die Älteren von uns kennen noch Knechte und Mägde beim Bauern, als dort noch überwiegend Handarbeit zu tun war. Da gab es einen Großknecht und manchmal auch einen faulen Knecht. Es kam selten vor, dass sich ein Knecht einen anderen Herrn suchte. Ein Knecht diente treu seinem Herrn und nahm dafür auch Strapazen auf sich.

Der Gottesknecht bei Jesaja freilich muss extrem leiden, viel härter, als ein Herr seinem Knecht zumuten würde. Solche Misshandlungen gehören in unserem Verständnis nicht zum normalen Berufsrisiko eines Knechtes.

Warum muss der Gottesknecht leiden? Er sagt nicht, wer ihn anklagt und wer ihn misshandelt. Das sind gewiss nicht die Müden, die er stärkt und tröstet. Der Knecht muss leiden, weil er auf Gott hört, genauer, weil er Gott gehorcht. Er sagt: Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück. Der Gehorsam gegenüber Gott ist die Ursache seines Leidens. Es sind zwar Menschen, die ihm das Leiden zufügen, aber er weicht den Menschen nicht aus, weil er Gott gehorcht.

Über seine Ankläger sagt der Gottesknecht: Sie alle zerfallen wie ein Gewand, das die Motten zerfressen. Ist das nicht ein schönes Bild: Die Feinde zerfallen von selbst! So machtlos sind sie, so mächtig ist Gott, und so treu hält er zu seinen Knechten. Ein ungeheures Gottvertrauen gehört dazu, in schwerstem Leid so etwas zu sagen.

Wer ist dieser Gottesknecht, von dem Jesaja schreibt? Der Autor kann an einen Propheten damals gedacht haben, vielleicht an sich selbst, oder an mehrere Propheten oder an das Volk Israel, wie es jüdische Theologen meistens tun. Wir Christen denken eher an Jesus, wenn wir diesen Text lesen.

Damit komme ich zur christlichen Deutung der Lieder vom Gottesknecht. Manche meinen, der Prophet Jesaja hätte Jesus Christus vorausgesagt. Aber er konnte von Jesus wirklich noch nichts wissen und seine Hörer schon gar nicht. Ein Prophet ist nicht jemand, der die Zukunft voraus weiß. Ein Prophet ist jemand, der den Willen Gottes kennt und die Wahrheit öffentlich sagt, vor allem die unwillkommene Wahrheit. Hier spricht ein Prophet, der tröstet und stärkt.

Die Ähnlichkeiten zwischen Jesus und dem leidenden Gottesknecht sind offensichtlich. Für beide gilt: Der Knecht Gottes gehorcht Gott und stärkt die Müden, er muss dafür leiden, und trotz allem, was er erleidet, weiß er sich doch von Gott gehalten und gerettet. Die Ähnlichkeiten sind so stark, dass die Evangelisten das Leben Jesu mit Worten der Propheten beschrieben haben.

Es spricht viel dafür, dass Jesaja mit dem Gottesknecht nicht einen bestimmten Menschen gemeint hat, sondern das Volk Israel und seinen Dienst für die Völker, oder wenigstens das Leiden der Propheten im Volk Israel. Jesus gehörte zum Volk Israel. In diesem Sinne ist es berechtigt, die Lieder vom leidenden Gottesknecht auf Jesus zu beziehen.

Die Gottesknechtslieder scheinen mir auch auf prophetische Menschen aus der jüngeren Vergangenheit zu passen, auf Dietrich Bonhoeffer etwa oder Martin Luther King oder den Erzbischof Oscar Romero in San Salvador. Prophetische Menschen im Leiden gibt es natürlich nicht nur unter Christen.

Nun zur Gegenwart. In welchen Situationen kommt Folter vor, wie der Gottesknecht sie erlitt? Am häufigsten wohl unter schlechten Regierungen. Dazu zähle ich auch Regierungen, die zugunsten ihrer Volksgruppe und zugunsten ihres eigenen Machterhalts anderen Volksgruppen absichtlich Böses tun mit weit überzogenen Mitteln. Die Gegenwart ist voll davon, und leider gibt es solche Regierungen auch in Europa und an Europas Rand. Drei Beispiele:

(1) Die Regierung in Moskau läßt Tschetschenien bombardieren und verheeren, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Sie hält das Land für einen Teil ihrer Föderation. Es ist aber in Wirklichkeit eine übrig gebliebene Kolonie, die von den Zaren in jahrzehntelangen Kämpfen erobert wurde. Russland ist die letzte übrig gebliebene Kolonialmacht.

(2) In Belgrad regiert ein Machtsüchtiger; er konzentriert seine Truppen in Montenegro gegen den Willen von Bevölkerung und Landesregierung dort und provoziert so die nächste bewaffnete Auseinandersetzung.

(3) In der Türkei, die zu Europa gehören möchte, darf man die Kurden nicht einmal nennen, sogar ihre Sprache ist verboten.

Ich höre hier aus der Gemeinde die Meinung, da könne man nichts machen. Das ist wahr und falsch zugleich. Manche Volksbewegung in Mitteleuropa hat schon manches woanders in der Welt verändert. Wenn Aktionsgruppen und die veröffentlichte Meinung in Westeuropa solche Ungeheuerlichkeiten immer wieder kräftig genug anprangern, zeigt das oft Wirkung.

Aber wir schauen wie gelähmt zu, wie andere zündeln und unterdrücken. Ich habe noch nichts unternommen, das mich etwas kostet, habe noch nicht einmal einen Brief an eine der Botschaften geschrieben. Man kann sich an alles gewöhnen, auch an das Elend -- anderer Leute.

Die Katastrophe des Babylonischen Exils war auch übergroß, da konnte man wirklich nichts machen. Und Jesaja hat doch etwas getan, hat getröstet und die Müden gestärkt.

Die beiden heutigen Bibeltexte, Jesu Einzug in Jerusalem und das dritte Lied vom Gottesknecht, sind für die meisten von uns in unserer friedlichen Zeit mit demokratischer Regierung und mit unserem Wohlstand mehrere Nummern zu groß. Ich sage "die meisten", weil manche in unserer reichen Gesellschaft schweres Leid zu tragen haben durch Krankheit oder Altersbeschwerden, mit Einsamkeit, einem Alkoholproblem oder andere Sorgen.

Der Prophet Jesaja hat ebenso wie der Gottesknecht als Mensch für andere gelebt. Auch Jesus hat das, und beide rufen uns auf, es ihnen nachzutun.

Dietrich Bonhoeffer hat dazu aus der Gefangenschaft 1944-45 etwas geschrieben, was ich an den Schluss meiner Gedanken stellen möchte (WuE 401f): Später erfuhr ich, und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich etwas zu machen -- sei es einen Heiligen oder einen Sünder oder einen Kirchenmann, ... einen Gerechten oder Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden ..., dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist (Metanoia) Umkehr zu Gott, und so wird man ein Mensch, ein Christ.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten