Kain und Abel

Predigt zu 1. Mose 4, 1-16 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 17. September 2000, 13. Sonntag nach Trinitatis


Wenn jemand weit ausholt, bevor er zur Sache kommt, dann sagen wir: "Der fängt bei Adam und Eva an." Der Predigttext für heute fängt tatsächlich mit Adam und Eva an. Er kommt aber schnell zur Sache. Wenige Verse weiter erschlägt Kain seinen Bruder Abel.

Die Erzählung ist sehr dicht, ist hohe Dichtung. Man kann sich lange mit ihr beschäftigen, findet immer wieder Neues darin. Man ist nicht schnell fertig damit, sondern kann sich gefangen nehmen lassen, wird angeregt und bereichert. Viele haben über diese Geschichte geschrieben.

Die Erzählung von Kain und Abel regt zu immer neuen Fragen an, und damit meine ich nicht die scheinbaren und vordergründigen Unstimmigkeiten, sondern die Tiefe der Erzählung.

Was ist diese Tiefe? Die Geschichte von Kain und Abel erläutert, wie das Leben manchmal läuft. Diese kurze Erzählung will uns beschreiben, wie die Welt ist, sie ist ein Modell. Sie ist in diesem Sinne eine mythische Erzählung.

Manches Wichtige in der Geschichte kann man aber erst dann erkennen, wenn man die Bedeutung der Namen "Kain" und "Abel" beachtet und auch die Berufe dieser beiden Männer.

Der Name "Kain" bedeutet "Lanze". Seine Mutter bezeichnet ihn schon gleich nach der Geburt als Mann. Das ist ungewöhnlich. Wir dürfen ihn uns als kräftigen Kerl vorstellen. Der Name "Abel" dagegen ist gleichlautend mit dem Wort für "Hauch" oder "Nichtigkeit".

Der eine war ein Ackerbauer war und der andere ein Hirt. Es mag uns gleichgültig erscheinen, wer von beiden welchen Beruf hatte. Aber das ist durchaus wichtig, und es wird am Anfang der Geschichte gesagt.

Kain war ein Ackerbauer, man kann auch sagen, ein Großgrundbesitzer. Die Ackerbauern im alten Israel hatten das fruchtbare Land, konnten Vorräte anlegen und lebten sicher. Der Name "Kain" wird auch von "erwerben" abgeleitet und deutet dann auf Reichtum. Die Ackerbauern waren mächtig genug, die Hirten in die Steppe abzudrängen, wo wenig wuchs und wo man bei Trockenheit neue Weidegründe suchen musste.

Wenn Kain auf die Frage Gottes "Wo ist dein Bruder Abel" dreist antwortet "Soll ich meines Bruders Hüter sein?", dann spielt er auf den Beruf seines Bruders an. Das heißt: Soll ich etwa den Hirten hüten?

Kain war außerdem noch der Erstgeborene, der mit den größen Rechten. Er ist das künftige Haupt der Familie, wird die Verantwortung für die Familie tragen und deshalb doppelt so viel erben wie seine Geschwister (Dtn 21,17).

Die Geschichte sagt uns also dreifach, dass Kain der Starke war, körperlich kräftig, wirtschaftlich reich und rechtlich bevorzugt, und Abel war der Schwache. Sie sagt das durch die Namen und durch die Berufe und durch die Erstgeburt. Wir haben hier ganz klar eine Geschichte über den Umgang eines Starken mit einem Schwachen.

Ich lese nun den Anfang von 1. Mose 4 (1-16).

Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Laß uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, daß mich totschlägt, wer mich findet. Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

Wir hörten: Der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Das hieß für jeden Hörer damals: Abels Schafe wuchsen prächtig und brachten viel Wolle, Lämmer und Milch, aber Kain hatte trotz aller Anstrengung und besten Saatguts nur Missernten.

Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Das heißt, Kain war wütend, weil Gott auf das Opfer nicht reagierte wie gewünscht.

Kain war stark, und die Starken sind besonders empfindlich gegen Misserfolge. Wer es gewohnt ist, dass ihm alles gelingt, wird schneller grimmig und wütend als jemand, der auf der Schattenseite des Lebens steht und ohnehin dauernd Schläge und Rückschläge wegstecken muss. In dieser Erzählung geht es auch darum, wie man mit solcher Wut umgeht.

Gott spricht Kain deswegen an, er ahnt Böses. Gott gehört in den ersten Kapiteln der Bibel sozusagen zur Familie, hat alltäglichen Umgang mit den Menschen. Väterlich ermahnt er Kain und warnt ihn vor der Sünde, die wie ein Tier vor der Tür lauert und die nach Kain Verlangen hat. Kain soll über die Sünde herrschen.

Heute nennen wir so eine Stimme eher das Gewissen. Hören können wir sie immer noch. Wie damals drängt sich diese Stimme nicht auf, zwingt uns nicht. Sie erinnert uns nur an unsere Verantwortung. Diese Stimme lädt uns ein zum Gespräch mit Gott, zur Stille, zum Gebet.

Gott spricht wenige eindringliche Sätze zu Kain. Es entsteht kein Gespräch zwischen Gott und Kain. Kain fragt nicht einmal, warum Gott das Opfer nicht angenommen hat. Kain war wütend auf Gott und neidisch auf Abel. Gegen Gott kann er nichts machen. Abel ist schwach; Kain lockt seinen Bruder aufs Feld und erschlägt ihn.

Kain muss tief verletzt gewesen sein. Vermutlich hielt er Gott für ungerecht. Es geht in der Welt wirklich nicht immer gerecht zu. Wir Menschen haben unsere eigene Vorstellung von Gerechtigkeit, und Gott hat seine. Hier, als Kain von seinen Früchten opfert und Abel von seinen Lämmern, sieht Gott vorbei an dem, der sowieso im Mittelpunkt steht, und sieht auf den Schwachen und Gefährdeten. Solche Barmherzigkeit Gottes heißt in der Bibel Gottes Gerechtigkeit. Für einen, der gerade übergangen worden ist wie Kain, sieht das freilich ungerecht aus. Der fühlt sich ausgesprochen ungerecht behandelt.

Mit solcher Großzügigkeit Gottes gegenüber anderen müssen wir leben. Aber was heißt hier müssen? Sie kommt ja auch uns zugute, sie ist für jeden von uns lebenswichtig. Außerdem kostet es uns nichts, wenn Gott zu anderen gut ist. Man muss auch gönnen können.

Kain konnte nicht gönnen. Kain ergrimmte, steht da. Der Grimm ist ein schlechter Ratgeber, ebenso wie der Jähzorn. Ich sehe nicht, welchen Vorteil Kain sich etwas von dem Mord versprechen konnte. Das war völlig irrational.

Kain ist vermutlich neidisch gewesen. Der Neid ist auch nicht besser als der Grimm. Es gibt immer andere, denen es besser geht als uns. Wollten wir die alle umbringen, dann hätten wir viel zu tun. Schlimmer noch: Danach ginge es uns viel schlechter als jetzt. Denn wir könnten gar nicht überleben ohne die Arbeit vieler anderer, die reicher sind als wir. Die Reichen umzubringen wäre nicht nur ein Verbrechen, das wäre zusätzlich ein Fehler. Ich behaupte mal, dass jedes Verbrechen höchstens auf kurze Sicht Probleme löst und auf lange Sicht immer ein Fehler ist. Das Gute heißt nicht nur so, es dient dem Menschen.

Grimm und Neid bringen es also nicht. Kain konnte auch anders. Er ist nicht von vornherein der Sünder, obwohl der erste Johannesbrief so etwas behauptet. Gott hat ihm helfen wollen vor der Tat. Aber Gott hat Kain nicht gezwungen oder gehindert. Kain durfte sich frei entscheiden.

Diese Entscheidungsfreiheit hat leider zwei Seiten: Gott hat das Unglück kommen sehen, hat aber Abel nicht gerettet. So ist das bis heute: Immer wieder tut jemand einem anderen Böses, und Gott verhindert das nicht. Gott redet den Menschen ins Gewissen, aber er hindert sie nicht, anderen Menschen Böses zu tun. Es hat keinen Sinn, an so einer Tatsache vorbeizusehen. Gott bemüht sich darum, böse Taten abzuwenden, wie bei Kain, aber er verhindert sie nicht, oder zumindest nicht immer, auch heute nicht. Hier ist, wie gesagt, unser Gebet gefordert.

Nun ist der Mord geschehen, und Gott hat dem Kain die Folgen genannt. Kain spricht selbst von seiner Strafe, er sagt: Meine Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte. So hat Kain sich selber geschadet, als er Abel erschlug. Er muss die Folgen tragen: Der Acker hat Abels Blut aufnehmen müssen und kann nicht mehr fruchtbar sein. Deshalb muss Kain zum niedrigeren Beruf des Nomaden absteigen.

Was Gott da ausspricht, ist zugleich die Strafe für die Tat und die Folge der Tat. Damit wird die spätere Mühsal der Landarbeit als Folge der menschlichen Sünde beschrieben. Diese Erzählung erklärt an mehr als einer Stelle, warum die Welt so ist, wie sie ist.

Das größere Thema der Erzählung von Kain und Abel scheint mir aber der Umgang der Starken mit den Schwachen zu sein. Das ist sogar ein Thema der ganzen Bibel, angefangen bei den frühesten Propheten bis zu den Gleichnissen Jesu, vor allem als Umgang der Reichen mit den Armen. Jeder soll angstfrei leben können und das Nötigste an Essen und Kleidung haben. Wie soll Gemeinschaft gelingen, wenn der eine überreich ist und dem anderen das Nötigste fehlt?

Leider nicht angstfrei leben können bei uns heute Menschen, die anders aussehen als wir. Das fängt an mit dem Gerede, unser Staat würde die Asylsuchenden besser versorgen als seine eigenen Bürger. Das geht bis zu den irregeleiteten Menschen, die andere misshandeln, um sich gut zu fühlen. Wieder zeigt sich die Aktualität der Geschichte von Kain und Abel.

Wir können uns am anderen freuen, weil er anders ist, weil er eine Bereicherung für uns ist. Vielleicht kennen Sie die Plakate: "Deine Zahlen: arabisch; dein Gastwirt: ein Grieche, dein Erlöser: ein Jude; dein Nachbar: nur ein Ausländer."

Kains Bruder war nur ein Hirt. Aber Gott sieht am starken Kain vorbei auf den schwachen Abel, ebenso, wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn am älteren Bruder vorbei auf den jüngeren sieht. (Trotz Hebr 11,7.) Gott ist mit den Schwachen. Er scheint beide Male zum ältesten Sohn zu sagen: Warum freust du dich nicht mit mir über deinen kleinen Bruder?

Es ist gut für uns und für alle, wenn wir uns am Schwächeren freuen und ihn fördern und schützen, so wie Gott den Kain auch nach dessen Mordtat geschützt hat. Schließlich hat Gott uns nach seinem Bilde geschaffen, und da kann es nicht falsch sein, wenn wir so handeln wie er.

Wenn Paulus den Philippern schreibt (2,3): "In Demut achte einer den Andern höher als sich selbst", dann weist er uns gerade diejenigen Anderen, an denen wir etwas auszusetzen haben.

Freuen wir uns daran, wie unsere Mitmenschen anders sind als wir, anstatt sie zu beneiden oder ihnen zu schaden. Genießen wir die Vielfalt der Schöpfung. Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass alle Menschen genauso wären wie Sie oder genauso wie ich, dann hätte er das sicher auch so machen können, aber zu unser aller Glück hat er es nicht gewollt.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten