Der Kindermord zu Betlehem

Predigt über Matthäus 2,13-18 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 28. Dezember 2003, Gedenktag der Unschuldigen Kinder


Vor drei Wochen hat im Südwesten Afghanistans ein Kampfflugzeug auf einen vermuteten Terroristenführer geschossen. Dabei kamen neun Kinder ums Leben, der verdächtigte Mann aber blieb unverletzt.

Vor zweitausend Jahren wollte ein König einen möglichen Konkurrenten aus dem Weg räumen. Er ließ dafür alle Knaben unter zwei Jahren in Bethlehem und Umgebung umbringen. Der gesuchte Konkurrent aber blieb unverletzt; er war in Ägypten.

Das schildert Matthäus in seinem Evangelium. Deshalb gibt es in der evangelischen wie in der katholischen Kirche den Gedenktag der Unschuldigen Kinder, nämlich am 28. Dezember, also heute. Der König hieß Herodes der Große.

Das war damals, und das war weit weg von hier. Geht uns das trotzdem etwas an?

Herodes wollte seine Macht sichern. Das ist auch heute noch oft der Grund für Krieg und Gewalt. Und bei jedem Krieg leiden die Kinder besonders. Deshalb ist der Kindermord in Bethlehem heute leider ebenso aktuell wie damals.

-- Aber wir sind doch keine machtvollen Könige wie Herodes. Wir haben hier im Gottesdienst keinen Bundeskanzler oder Ministerpräsidenten, mit viel weniger Macht als Herodes. Ich sehe nicht einmal einen Bürgermeister. Es gibt zwar Korruption in Deutschland. Doch keiner von uns ist in der Versuchung, zur Erhaltung seiner Macht ein großes Unrecht zu begehen, gar auf Kosten von Menschenleben.

Stimmt das? Wir haben auch Macht. Unser Geld ist auch eine Form von Macht. Mit unserer Kaufkraft üben wir starken Einfluss aus. Der Friedensforscher Johan Galtung beschreibt darüber hinaus eine „strukturelle Gewalt", Gewalt durch Strukturen. An der sind wir beteiligt.

Der Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg – gepredigt hat er meines Wissens nicht -- schrieb im 18. Jahrhundert: Wenn ich je eine Predigt drucken lasse, so ist es über das Vermögen, Gutes zu tun, das jeder besitzt. Der Henker hole unser Dasein hienieden, wenn nur der Kaiser Gutes tun könnte. Jeder ist ein Kaiser in seiner Lage.

Also: Auch wir sind Kaiser, auch wir haben etwas von der Macht des Herodes, auch wir können Macht missbrauchen.

-- Schauen wir jetzt an, was der Evangelist Matthäus schreibt. Ich fasse die Verse vor dem Predigttext zusammen.

Die ersten Besucher Jesu nach der Geburt waren die Weisen -- oder Sterndeuter -- aus dem Morgenland. Sie wollten den neugeborenen König der Juden anbeten. Dafür waren sie erst in die Hauptstadt Jerusalem gereist. Hier gerieten die Gutwilligen an einen Machtmenschen: Als Herodes von der Geburt eines neuen Königs hörte, erschrak er, denn er sah seine Macht bedroht.

Er befragte die Schriftgelehrten in Jerusalem. Diese fanden beim Propheten Micha (5,1) den folgenden Hinweis auf einen zukünftigen König von Israel: Aber du, Betlehem-Efrata, so klein unter den Gauen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll. Herodes fragte die Sterndeuter, wann der Stern erschienen sei. Dann schickte er sie nach Betlehem weiter und befahl ihnen, auf dem Rückweg wieder bei ihm vorbeizukommen und ihm zu berichten. Eine Lüge setzt er gleich dazu: Er wolle dem neuen König huldigen.

Es half dem Herodes nichts: Die Sterndeuter bekamen im Traum einen höheren Befehl. Sie zogen auf einem anderen Weg heim in ihr Land, nicht über Jerusalem. Matthäus erzählt weiter, und das ist der Predigtext (2,13-18):

Als sie wieder gegangen waren, erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten.

Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des Herodes. Denn es sollte sich erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.

Als Herodes merkte, daß ihn die Sterndeuter getäuscht hatten, wurde er sehr zornig, und er ließ in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte.

Damals erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: Ein Geschrei war in Rama zu hören, lautes Weinen und Klagen: Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie waren dahin.

-- Herodes der Große war ein grausamer Herrscher. Er hat drei Söhne und eine seiner Ehefrauen umbringen lassen. Ihm konnte man eine solche Tat durchaus zutrauen, wie Matthäus sie schildert. Gleich zwei Jahrgänge Knaben lässt er umbringen, um einen Neugeborenen aus dem Weg zu räumen, das ist schon skrupellos.

Was Herodes da tat, war Politik, war Staatsraison, war Sicherung der eigenen Position. Wir erleben auch heute, wie viel Zeit und Kraft Spitzenpolitiker aufwenden müssen, nur um an der Spitze zu bleiben und nicht von dort verdrängt zu werden. Heute bringen die Mächtigen bei uns ihre Mitbewerber nicht mehr um, sondern setzen sie mit Worten herab, schmähen sie und beschimpfen sie, spionieren möglichst noch ihr Privatleben aus und machen ihre Schwächen bekannt. Unappetitlich und abstoßend ist das, auch wenn dabei kein Blut fließt.

-- Was haben wir damit zu tun? Nun, unsere Politiker veranstalten solche Schlammschlachten für die Wähler, für uns. Meinungsumfragen und Wahlanalysen müssen wohl einen Nutzen solcher Schlammwürfe aufgezeigt haben. Das Schmähen und Beschimpfen muss sich wohl lohnen. Anscheinend sind wir Wähler mitschuldig daran, dass Politik wie ein schmutziges Geschäft aussieht. So kommen wir wieder in die Geschichte vom Kindermord hinein.

-- Wenn uns der Kindermord ein paar Nummern zu groß ist: Wir leben auch friedlich und im Kleinen auf Kosten unserer Kinder und Enkel. Wir verbrennen das Erdöl, das als Rohstoff für Arzneien und andere Stoffe dient und viel zu schade ist zum Verbrennen. Wir verbreiten Schadstoffe aller Art fein verteilt in die Natur. Wie wir da herauskommen, weiß ich auch nicht. Um mit Reisig aus dem Wald zu heizen, sind wir zu viele. Um unsere Lasten nur auf Pferderücken zu transportieren, verbrauchen wir zuviel.

Für unsere Kinder und Enkel häufen wir Staatsschulden an ohne Maß und mit allen Tricks. Diese Schulden werden den Handlungsspielraum unserer Nachkommen gewaltig einengen. Nebenher konsumieren wir die Erlöse aus dem Verkauf staatseigener Firmen. Wir leben seit Jahrzehnten weit über unsere Verhältnisse, haben uns daran gewöhnt und eine ungeheure Anspruchshaltung entwickelt. Die ist noch schlimmer als die Schulden. Unsere Nachkommen müssen diese Ansprüche verringern und obendrein die Schulden übernehmen. Kein Staat in der Geschichte der Staaten hat seine Schulden anders erledigt als durch Geldentwertung. Unsere Nachkommen bezahlen erst die Zinsen für unsere Schulden und am Ende auch die Schulden selbst durch Wertverlust ihrer Ersparnisse. Am Tag der Unschuldigen Kinder darf ich auch daran erinnern.

-- Wenn uns der Kindermord zu blutig ist: Ich las, dass auf der Erde seit vielen Jahren jeden Tag 40 000 Kinder verhungern. Das ist auch ein großes Unrecht, ein tödliches Unrecht. Zum Vergleich: Bethlehem wird damals insgesamt weniger als tausend Einwohner gehabt haben, vielleicht ein Dutzend männliche Säuglinge, und der berichtete Kindermord war ein einmaliges Ereignis. Dagegen heute 40 000 Kinder jeden Tag! Das kann sich niemand mehr vorstellen.

Wenn Regierungen ihre eigene Bevölkerung systematisch in den Hunger treiben wie in Nordkorea und Zimbabwe, ist es sehr schwer, etwas dagegen zu tun. Schwer, aber nicht unmöglich: Ich denke, Amnesty International kann die Opposition stärken und dadurch viel bewegen und noch mehr Schlimmes verhindern. Auch gegen die Korruption gibt es jetzt eine Bewegung, nämlich Transparency International. Durch die Arbeit solcher Organisationen leben die üblen Mächtigen weniger bequem. Und die kirchlichen Hilfswerke setzen nicht nur Zeichen, sie helfen wirklich an Stellen, wo fremde Regierungen sich nicht einmischen können. Wo immer wir mittun, handeln wir wie Kaiser im Sinne Lichtenbergs: Wir können Gutes tun.

-- Jede und jeder von uns hat mit Menschen zu tun, die schwächer sind als sie oder er. Jeder von uns hat ein Revier zu verteidigen, seine Wohnung, sein Geld, seine Freiheit. Hier kommt der Gegensatz zwischen Herodes und dem neu geborenen Jesus klar heraus: Herodes ist mächtig und verteidigt das Seine, Jesus ist schutzlos und setzt sich für die Schwachen ein.

Der Herodes in uns verteidigt das Seine und glaubt nicht daran, dass in einem wehrlosen Kind ein König auf ihn zu kommt, der andere Maßstäbe setzt: Er, Jesus Christus, wird keine Gewalt ausüben, sondern die Lasten der Menschen tragen und die Menschen befreien.

Wir vertrauen auf Jesus, auf Gottes Sohn, dessen Geburt wir zu Weihnachten feiern. Er ermuntert uns, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln, Frieden zu stiften und dabei eher Unrecht hinzunehmen, als Unrecht zu tun. Das ist nicht einfach, aber es ist stärker als jede Gewalt, stärker auch als der Kindermord.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten