Komm und sieh!

Predigt über Joh 1,43-51
in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 2. Januar 2005 (2. Sonntag nach dem Christfest)


Am Weihnachtsfest haben wir die Geburt Jesu gefeiert. Was bleibt davon für das neue Jahr? Welche Rolle spielt dieser Jesus in Ihrem Leben?

Ein befreundeter Priester schrieb uns eine selbstgestaltete Postkarte mit dem Wort: "Jesus Christus spielt in meinem Leben keine Rolle. Er ist mein Regisseur."

Ebenso hat Jesus für seine Jünger ihr ganzes Leben verändert. Am Beginn des Johannes-Evangeliums ist das erste, was von Jesu öffentlichem Wirken gesagt wird, die Berufung seiner Jünger.

Die ersten Jünger beruft Jesus gar nicht durch eigenes Tun. Zwei Jünger Johannes des Täufers hören Jesus reden und folgen ihm von selber nach. Das sind Andreas und ein nicht genannter Jünger, allem Anschein nach der Jünger, den Jesus liebte. Andreas führt seinen Bruder Petrus zu Jesus, und dieser wird der dritte Jünger Jesu.

Gleich nach dem Bericht vom Wechsel der Johannesjünger zu Jesus beginnt unser Predigtext. Er beschreibt die Berufung der nächsten zwei Jünger, Philippus und Nathanael.

Also: Nachdem Jesus die ersten drei Jünger berufen hat, findet -- oder trifft -- er Philippus. Der findet den nächsten Jünger, Nathanael, besser bekannt unter seinem Beinamen Bartholomäus. Wir haben hier eine Erzählung vom Finden und vom Sehen.

Ich lese aus dem Evangelium nach Johannes, Kapitel 1.
- Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa gehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach!
- Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und Petrus.
- Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth.
- Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh es!
- Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist.
- Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich.
- Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!
- Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres als das sehen.
- Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.

Jesus findet Philippus. Wir wissen nicht, ob er gesucht hat; das bleibt offen. Einen Menschen, der für mich wichtig wird, finde ich vielleicht eher, wenn ich nicht suche, sondern offen bin für Begegnungen. Vielleicht ist Jesus einfach einem Menschen begegnet, der aufgeschlossen war, der Fragen hatte, der sich anrühren ließ, von dem Jesus den Eindruck hatte, daß er mit ihm etwas anfangen könnte. So ruft er ihn, mit ihm das Leben zu wagen.

Jesus spricht zu Philippus: Folge mir nach! Für den Evangelisten ist klar, daß Philippus nachfolgt, das braucht er nicht einmal zu sagen. Das gehört zu dem Bild, das er von Jesus zeichnet. Wen Jesus einlädt, der folgt ihm sofort, er gehorcht dem Ruf. Damit verdeutlicht der Evangelist die Macht Jesu.

Philippus hat auch Jesus gefunden. Philippus und die vorher berufenen Jünger haben auf den Erlöser ihres Volkes gewartet. Gesucht, gefunden. Philippus hat nicht nur einen Menschen gefunden, sondern die große Aufgabe seines Lebens.

Schnell geht der Bericht des Johannes über Philippus hinaus: Philippus findet Nathanael. Wir wissen nicht, ob er ihn vorher kannte. Jedenfalls kommen beide so ins Gespräch, daß Philippus dem Nathanael weitergibt, was ihn tief bewegt: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, den Retter unseres Volkes, der auch mich rettet. Philippus hat es mit einem suchenden Menschen zu tun bekommen, und daran knüpft er an.

Hier missioniert Philippus. Er übt aber auf Nathanael keinen Druck aus, sondern teilt im mit, was er entdeckt hat und was ihn bewegt. Das scheint mir die beste Art zu sein, für Jesus zu werben. Sein Herz läuft ihm über, aber seine Begeisterung löst in Nathanael eher Zurückhaltung aus, ja Skepsis: Was kann aus Nazareth Gutes kommen!

Nazareth war damals tatsächlich ein völlig unbedeutendes Dorf. Nathanael stammte aus Kana, einem Nachbardorf von Nazareth (Joh 21,2). Vielleicht kannte er den Ortsnamen Nazareth nur deshalb. In der Hebräischen Bibel kommt Nazareth nicht vor, schon gar nicht im Zusammenhang mit dem erwarteten Messias. Der sollte ja aus Bethlehem kommen, aus der Stadt Davids.

Der schriftkundige Nathanael hat also Grund, skeptisch zu sein. Hier würdigt der Evangelist in der Gestalt des Nathanael diejenigen Menschen, die nicht sofort jedem Prediger folgen. Wir dürfen genauer nachfragen, bevor wir etwas glauben oder jemandem vertrauen. Leichtgläubig sollen wir nicht sein.

Nathanael ist darin mit dem anderen Skeptiker des Johannes-Evangeliums verwandt, mit dem sogenannten ungläubigen Thomas (20,25). Und wie dieser, so legt auch Nathanael ein großes Bekenntnis ab. Thomas wird zum Auferstandenen sagen: Mein Herr und mein Gott. Nathanael sagt: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!

An diesem schnellen Bekenntnis merkt man deutlich, daß der Evangelist nur das wichtigste sagt. Er skizziert sehr kurz einen Vorgang, der in Wirklichkeit eher Stunden gedauert hat. Kann ein Mensch so schnell den Sinn und das Ziel seines Lebens ändern?

Warum glauben wir die eine Aussage und dem einen Menschen, glauben aber nicht die andere Aussage und dem anderen Menschen? Hier ist eine Überlegung angezeigt, was der Grund unseres Glaubens sein kann, Grund unseres Vertrauens zu Jesus und zu seinem Vater.

Für Philippus und Nathanael war die Hebräische Bibel entscheidend. Dort war vorhergesagt, woher der Retter kommen sollte und woran man ihn erkennen würde. Viele unserer Weihnachtslieder nennen solche Stellen des Alten Testaments, die sie auf Jesus beziehen. Sie wollen damit zeigen, daß er auch für uns der Retter ist.

Damals wartete man auf einen Retter, der das unterdrückte und zerstreute Volk Israel sammeln und befreien sollte. Heute geht es den meisten von uns viel besser. Merken wir überhaupt, daß uns etwas fehlt?

Und dann -- warum sollte ich ausgerechnet den Worten der Hebräischen Bibel glauben und nicht -- zum Beispiel -- den Suren des Korans?

Hier gibt es recht verschiedene Antworten. Lessing in seinem Drama Nathan der Weise verweist auf die Zeugen von früher, denen wir vertrauen, der eine diesen, der andere jenen Zeugen des Wirkens Gottes. Karl Barth und andere sagen, wir könnten da gar nichts tun, es ist Gott, der handelt und sich offenbart. Luther verweist auf den Heiligen Geist: Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, ...

Philippus aber sagt zu Nathanael einfach komm und sieh. Überzeug dich selbst. Vergleich das, was dir angetragen wird, mit deiner eigenen Lebenserfahrung, mit dem, was dir bisher angeboten wurde, mit deinen Vorstellungen von der Welt, wie sie ist und wie sie sein sollte, mit deinen Wünschen, Erwartungen und Hoffnungen.

So hat zum Beispiel Gandhi die Bergpredigt gelesen und dabei entdeckt, daß Jesus ihm etwas höchst Wichtiges zu sagen hatte. Das hat er dann gelebt und weitergesagt.

Die eigenen Entdeckungen leben und weitersagen, so breitet sich auch heute der Glaube aus. Die nächste Generation sollte an uns sehen, wie die Botschaft Jesu uns durchdringt und zur Tat drängt. Die Generation unserer Kinder und Enkel sollte den Heilige Geist in uns und unserem Tun entdecken, sollte sehen, wie er die Menschen zum Besseren verändert. Sie sollte sehen, wie Gott nicht fern und untätig ist, sondern durch Menschen kräftig in die Welt hinein wirkt.

Wenn heutzutage die christliche Tradition auf dem Rückzug ist, dann müssen wir uns fragen, ob wir zu selten komm und sieh gesagt haben, ob das, was bei uns zu sehen ist, nicht überzeugt, ob wir vielleicht Jesus aus dem Blick verloren haben.

Wie Jesus den Jünger Nathanael gewinnt, daran ist für mich vor allem wichtig, daß er ihn und seine Zweifel ernst nimmt. Glaube kann erst dann tief und wirksam sein, wenn er Zweifel überwunden hat. Wahrscheinlich ist dafür auch Leiden erforderlich, zumindest inneres Leiden, Leiden an sich selbst und an der eigenen Unvollkommenheit. Die Unvollkommenheit bleibt auch dem Glaubenden, aber bei ihm wird sie fruchtbar: Er kann die unvollkommenen Anderen mit ihren Fehlern lieben, manchmal sogar wegen ihrer Fehler.

Die Art, wie Johannes die Begegnung zwischen Jesus und Nathanael schildert, scheint mir durchaus weltlich-diplomatisch und bringt mich zum Schmunzeln. Jesus beginnt mit einem Kompliment: ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. Jesus sagt weiter, er habe Nathanael vorher unterm Feigenbaum gesehen, und das heißt für Juden, beim Studium der Heiligen Schrift. Das ist eine Begründung für die Aussage ein rechter Israelit und zugleich ein Lob Nathanaels als eines frommen Schriftgelehrten, also ein zweites Kompliment. Das reicht schon aus, damit Nathanael in den höchsten Tönen ruft: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! Wenn Mission so einfach ginge! Wir heute müssen uns schon mehr mühen als Jesus und Philippus bei Nathanael in diesem kurzen Bericht.

Die Erzählung von der Berufung des Jüngers Nathanael endet mit einer Anspielung an die Jakobsleiter: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. Vielleicht bedeutet das für uns: Wir werden immer mehr Bestätigung dafür finden, daß die Worte und Taten Jesu Bestand haben und Bedeutung behalten und das Letztgültige sind: seine Seligpreisungen und großen Gleichnisse, sein Einsatz des eigenen Lebens für seine Mitmenschen und auch für uns.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten