Jesus heilt einen Blinden

Predigt zu Markus 8,22-26 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 2. September 2001, 12. Sonntag nach Trinitatis


Der Predigttext für heute steht beim Evangelisten Markus im 8. Kapitel. Er fängt an mit dem Satz "Sie kamen nach Betsaida." Sie, das waren Jesus und seine Jünger. Betsaida war ein Städtchen am Nordostufer des Sees Gennesaret, also außerhalb Galiläas, in nicht-jüdischem Land.

Sie kamen nach Betsaida. Da brachte man einen Blinden zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. Er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, bestrich seine Augen mit Speichel, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas? Der Mann blickte auf und sagte: Ich sehe Menschen; denn ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht. Da legte er ihm nochmals die Hände auf die Augen; nun sah der Mann deutlich. Er war geheilt und konnte alles ganz genau sehen. Jesus schickte ihn nach Hause und sagte: Geh aber nicht in das Dorf hinein!

Alle vier Evangelisten berichten von Wundern Jesu, und zwar von ziemlich vielen Wundern. Solche Taten Jesu müssen den Evangelisten also wichtig gewesen sein. Jesus heilte Kranke, bis hin zur Rückholung Toter ins irdische Leben, er trieb Dämonen aus, und er tat sogenannte Naturwunder, als er einen Sturm stillte oder über einen See ging.

Lukas berichtet, dass auch die Apostel Wunder taten. Wir Christen heute haben denselben Auftrag und dieselbe Zusage wie die Apostel, aber richtige Wunder tun können wir nicht. Es scheint, als hätten Jesus und die Apostel Wunderkräfte gehabt, die wir heute nicht haben.

Markus schreibt: Der Mann war geheilt und konnte alles ganz genau sehen. Markus beschreibt hier eine Heilung, die wir heute wohl als eine Wundertat bezeichnen können. Das wirft sofort die Frage auf: Ist das so geschehen, wie Markus das berichtet? Hat Jesus tatsächlich einen Blinden geheilt, einfach so, mit Speichel, mit Handauflegung und mit der Frage "Siehst du etwas"?

Der Bericht des Markus, wörtlich genommen, widerspricht aller menschlichen Erfahrung. Solche Heilung wäre nicht erst heute ungewöhnlich, sie war auch damals für die Leser des Markus nicht leicht zu glauben. Weshalb mag Markus das trotzdem so erzählt haben?

Ich zweifle, ob Markus hier einfach nur absichtslos ein Erlebnis erzählt. Viel spricht dafür, dass Markus seinen Lesern mehr sagen will als nur die vordergründigen Ereignisse.

-- Heilte Jesus durch Magie, durch Zauberei? Als ursächliches Heilmittel gegen Blindheit ist Speichel nun wirklich zu schwach, da muss noch eine andere Ursache für die Heilung sein. Handauflegung kann auch magisch verstanden werden. Ich staune immer wieder, wieviel Ansätze zu magischem Denken ich heute beobachten kann, bei meinen Mitmenschen natürlich leichter als bei mir selber. Aber für diesen Bericht wäre Magie ein Missverständnis, das kann Markus nicht gemeint haben.

Was meinen wir, wenn wir ein Ereignis ein Wunder nennen? Vom Wort her wäre das erst einmal etwas, worüber wir uns wundern. Aber meist meinen wir eher etwas, das nach den Naturgesetzen praktisch nicht vorkommen kann.

Als Markus sein Evangelium schrieb, ums Jahr 70 nach Christi Geburt, kannte man noch keine Naturgesetze. Die Welt war für die Menschen damals voller Mächte, und diese Mächte wirkten in der Welt, konnten dem Menschen nützen wie die Engel und auch schaden wie die Dämonen. Solches Denken ist uns heute ziemlich fremd, aber um Markus zu verstehen, müssen wir uns darauf einlassen.

-- Der Schlüssel zu dieser Erzählung ist die Frage, welche Macht hier wirkt bei der Heilung des Blinden. Jesus tut hier etwas, was nach damaligem Verständnis, nach den Schriften der Propheten nur Gott wirken kann. Markus sagt also mit dieser Erzählung: In Jesus ist die Kraft Gottes gegenwärtig.

Jesus heilte Menschen, und solche Heilung hatte Gott durch die Propheten für die Endzeit versprochen. Markus sagt also auch: Mit Jesus ist die Endzeit angebrochen, das versprochene Reich Gottes, Jesus hat die Endzeit gebracht. Um das zu sehen, müssen wir den Text vor und hinter dieser Erzählung von einer Blindenheilung mit einbeziehen.

Wenige Verse vorher sagt Jesus zu den Jüngern: Versteht ihr noch nicht, und begreift ihr noch nicht? [...] Habt Augen und seht nicht, und habt Ohren und hört nicht? Ein Blinder hat auch Augen und sieht nicht. Ebenso begreifen die Jünger nicht, wer ihr Meister ist. Jesus heilt den Blinden, und der kann dann deutlich sehen. Analog dazu: Gleich nach dieser Heilung berichtet Markus das Bekennntis des Petrus, der zu Jesus sagt: Du bist der Christus. Jesus hat dem Petrus sozusagen die Augen geöffnet, er hat ihn zur Erkenntnis geführt. Dem Petrus ist ein Licht aufgegangen.

-- Blindheit ist hier offensichtlich nicht nur körperlich gemeint, nicht einmal hauptsächlich körperlich. An vielen Stellen in der Bibel, vom 2. Buch Mose (23,8) bis zum letzten Buch des Neuen Testaments, wird das Wort "blind" im übertragenen Sinne benutzt.

So steht Blindheit für Verstockung, Verhärtung, Versteinerung. Nach Jesaja öffnet Gott selbst am Ende der Zeiten blinde Augen (29,18; 32,2; 35,5), und er bevollmächtigt den Gottesknecht dazu (42,6f). Dies ist ein Zeichen der Königsherrschaft Gottes (Ps 146,8-10). Markus macht deutlich, dass die Endzeit, die Königsherrschaft Gottes mit Jesus begonnen hat und durch ihn die verhärteten Herzen sich für Gott öffnen.

Körperlich Blinde erleben die Gleichsetzung ihrer Behinderung mit Dummheit und Nichtbegreifen auch heute noch und werden darunter leiden. Wir sollten uns hüten, so zu sprechen. Markus aber hat damals das Bild um des hohen Zweckes willen benutzt. Er spricht nämlich Aussagen des Propheten Jesaja an.

-- Noch einmal: Hat Jesus wirklich den Blinden so geheilt, wie Markus das beschreibt? Oder haben wir eine schöne Erzählung des Markus vor uns? Wir müssen unterscheiden zwischen dem Wunder, das Jesus wirkte, und der Wunder­erzählung. Uns heute fällt es viel schwerer als noch unseren Großeltern, tiefe Wahrheiten in Erzählungen auszudrücken. Wir trennen historische Ereignisse und Deutungen scharf voneinander. Das aber ist von einem antiken Schriftsteller wie Markus nicht zu erwarten. Markus erzählt einen Vorgang, um eine tiefere Wahrheit auszudrücken. Die vordergründige Frage ist nicht sein Thema.

-- Was ist an diesem Text Besonderes, verglichen mit anderen Wundergeschichten? Das erste und wichtigste ist vielleicht schon der Zusammenhang mit dem vorangehenden Wort Jesu: Ihr Jünger habt Augen und seht nicht, und mit dem nachfolgenden Bekenntnis des Petrus: "Du bist der Messias!" Aber beachten wir auch die Einzelheiten in der Erzählung selbst.

Jesus hat den Blinden an die Hand genommen und seine Augen mit Speichel bestrichen. Er hat Zeit für ihn und scheut nicht den Körperkontakt. Markus zeigt damit, wie intensiv sich Jesus einem Kranken zuwendet. Jesus stellt sich zu dem Kranken.

Speichel passt gut in die Erzählung, er galt als geschätztes Heilmittel. Wir tun ihn heute noch auf kleine Wunden und Insektenstiche. Vielleicht hat auch die schlichte Frage "Siehst du etwas?" geholfen. Dann legte Jesus noch einmal seine Hände auf die Augen. Jesus braucht zwei Anläufe, um den Mann zu heilen. Damit unterstreicht Markus, wie schwierig die Aufgabe ist, einem Blinden das Augenlicht wiederzugeben, wie groß die Leistung Jesu.

Auch der Glaube derer, die den Blinden bringen, hat sicherlich geholfen: Diese Menschen unterstellten ja, Jesus brauchte ihren Freund nur zu berühren. So ermuntert Markus ganz unauffällig seine Leser und Zuhörer, sich wie sie zu verhalten und ihre Sorgen Jesus anzuvertrauen.

Jesus schickte ihn nach Hause und sagte: Geh aber nicht in das Dorf hinein! Also: "Sage niemandem im Dorf etwas davon". Nach den Berichten des Markus soll Jesu göttliche Stellung erst nach der Auferstehung bekannt werden, weil sie erst dann recht verstanden werden kann.

-- Fassen wir zwei wichtige Aussagen dieser Wundererzählung zusammen. Zum einen: Jesus vollbringt Dinge, die nur Gott vollbringen kann; Jesus ist folglich der Gesalbte Gottes, der königliche Messias, der Christus, den die Juden damals erwarteten. Zum andern: Jesus vollbringt die Taten, die Gott für die Endzeit zu tun versprochen hat, und deshalb ist mit Jesus die Endzeit angebrochen.

Juden erwarteten diese Endzeit und einen Messias und erwarten beides noch heute. Aber was geht uns Nichtjuden diese alte Messiashoffnung an?

Die Evangelisten haben diese Frage auch schon gesehen, weil sie ja auch für Nichtjuden schrieben. Sie haben darauf wenigstens zwei Antworten, eine formale und eine inhaltliche.

Zum einen dehnt Jesus seine Werbung für Gott auf die Völker aus, auf die Nichtjuden, so wie hier bei unserer Blindenheilung in Betsaida in nichtjüdischem Land, wo Jesus allem Anschein nach einen Heiden heilte.

Zum andern laden sie ein, sich auf die Propheten und auf Jesu Lehre zu verlassen und selber zu merken, dass Jesus von Gott kommt.

-- Markus will sagen: Die Jünger waren die Blinden, und ebenso blind sind zunächst auch seine Leser, also wir.

Ich finde im Neuen Testament viele Stellen, die in vielerlei Einkleidungen nur dies eine sagen: Jesus ist Gott gleich, Jesu Wort ist Gottes Wort, und wer Jesus folgt, erkennt Gott und wird sehend; er kann frei umhergehen und Gottes Willen tun.

"Ich sehe Menschen, aber wie Bäume", sagt der Blinde, als er halb geheilt ist. Darauf kommt es an, die Mitmenschen zu sehen. Sind wir nicht auch oft in so einem Zustand, dass wir unsere Mitmenschen nur so ungefähr sehen, wie der halb geheilte Blinde? So lädt uns die Kirche also heute mit diesem Bericht des Markus von neuem ein, unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen zu überdenken: Gehen wir eher auf Distanz, oder wagen wir Nähe?

Ich schließe mit einem Text von Wilhelm Willms, der uns Wichtiges dazu sagt.

Als Jesus den Blinden heilte, / ist er ganz nahe herangegangen / an diesen blinden Menschen / hat ihn umarmt / hat sich nicht distanziert verhalten. / Wie ein Mensch ist er ganz nahe herangegangen / und hat mit dem Finger Speichel aus dem Mund genommen / und den Speichel dem Blinden auf die Augen gestrichen / ganz konkret. / Bah ... Speichel! / Wo bleibt da die Hygiene! / Aber was ist in der Liebe bah? / Und diese ungeheure menschliche Nähe / diese nicht gespielte Zuneigung / erleuchtete und erlöste den Blinden. / Das ist Erlösung.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten