Geh und verkünde das Reich Gottes!
Vom Ernst der Nachfolge

Predigt in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 19. März 2006, 3. Sonntag in der Passionszeit (Okuli), Lk 9,57-62


Das Evangelium für den heutigen Sonntag steht bei Lukas am Ende des 9. Kapitels.

Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.

Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!

Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, daß ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.

Zu drei Begleitern spricht Jesus hier, und dreimal sind es sehr harte Worte. Warum brüskiert Jesus seine Zuhörer, warum mißachtet er die Gebote der Liebe? Warum drängt er, das Reich Gottes sofort zu verkünden, ohne zu Hause Bescheid zu sagen? Warum duldet Nachfolge keinen kurzen Aufschub? Und schließlich: Wie kann man jemandem vertrauen, der von anderen verlangt, so rücksichtslos gegen seinen toten Vater und gegen seine lebenden Angehörigen zu handeln?

Andererseits ist uns vielleicht jemand, der seine Mitmenschen so überdeutlich anspricht, ja abschreckt, immer noch lieber als ein Rattenfänger, der sich einschmeichelt, um andere zu verführen.

Jesus ist kein Verführer. Er fordert eine klare Entscheidung, und er provoziert damals wie heute Hörer und Leser seiner Botschaft vom nahe gekommenen Reich Gottes.

Beachten wir auch, wann und wo Jesus so redet. Er hat sich auf den Weg nach Jerusalem gemacht mit einigen Schülern, darunter seine Jünger Jakobus und Johannes. Sie ziehen durch das Gebiet der Samariter, und die lehnen es ab, sie zu beherbergen, weil sie nach Jerusalem ziehen. Für die Samariter war Gott nur auf dem Berg Garizim würdig anzubeten, nicht in Jerusalem.

Alle, die mit Jesus nach Jerusalem gingen, nahmen es immerhin auf sich, mit ihm durch ein Gebiet zu wandern, wo sie unwillkommen waren. Jesus geht also mit treuen Gefährten, die Gesprächspartner halten alle zu Jesus. Ihr Ziel ist Jerusalem, das ist erst Hosianna und dann kreuzige ihn. Zumindest Jesus ist auf das Ende dieses Weges gefaßt: Er wird leiden und gekreuzigt werden.

Drei kurze Wortwechsel, drei Dialoge haben wir gehört, und darin drei harte Aussagen Jesu, die wohl nur im Blick auf diesen bevorstehenden Leidensweg zu verstehen sind:

·        Jesus ist heimatlos, und wer ihm nachfolgen will, wird auch heimatlos sein;

·        Jesus verlangt, den Vater nicht zu begraben und damit gegen eine wichtige Kindespflicht zu verstoßen;

·        er verbietet den selbstverständlichen Abschied, verlangt wortloses Verschwinden von der Familie.

Beim ersten Dialog will einer der Zuhörer Jesu nicht nur dessen schwierigen Weg durch das Gebiet der Samariter mit Jesus gehen, sondern er will ihm immer folgen, egal wohin. Der Mann muß von Jesus wirklich begeistert sein. Er möchte mit ihm und für ihn leben! Aber Jesus warnt ihn: Der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.

Ohne sich etwas unter den Kopf zu legen, kann man nicht schlafen. Der Arzt Viktor Frankl berichtet, daß es im Konzentrationslager nichts gab, was man sich unter den Kopf legen konnte, und man mußte bei aller Enge und Kälte den eigenen Arm unter den Kopf legen, und das ist auf Dauer schmerzhaft. Jesus sagt damit wohl: Mit mir zu gehen ist sehr unbequem, es ist das Leben von Nichtseßhaften, von Obdachlosen. Jedes Tier hat sein Nest oder seine Höhle, aber Jesus hat kein Heim.

Der Theologe Gerd Theißen spricht im Blick auf die frühe Jesusbewegung von charismatischen Wanderpredigern, Menschen mit besonderen Begabungen und hohen Zielen also. Was sich hier so abschreckend anhört, wird verständlich, wenn man bedenkt, daß es Wanderprediger waren, die diese Worte praktiziert und überliefert haben. Dann wären sie also nur für wenige, bestimmte Menschen damals gesprochen?

Ich denke, sie können auch für uns wichtig werden. Die Wanderprediger hatten ein Ziel, sie wollten die Menschen auf das nahende Reich Gottes vorbereiten. Wer weder ein Heim noch ein Ziel hat, verliert schnell die Orientierung und die Kraft. Die Orientierung hier ist die Person, der Lehrer Jesus aus Nazaret. Er gründet sein Leben ganz in Gott und in Gottes Liebe.

Die Warnung an den, der so bedingungslos mitgehen will, lautet also: Du wirst keine Kraft haben mitzugehen, wenn du dir Schutz suchst wie die Füchse, sondern nur dann, wenn du frei wirst vom Bedürfnis nach äußerer Sicherheit. Mehr noch, auch manche innere Sicherheit mußt du aufgeben, manches, worauf du dich bisher verlassen hast, manche Überzeugung, manche Gewohnheit. Praktiziere das, was Jesus lehrt, auch wenn es deinen Überzeugungen widerspricht. Wer aufbricht, der kann hoffen / in Zeit und Ewigkeit. / Die Tore stehen offen. / Das Land ist hell und weit. (EG 395,3)

Kommen wir zum zweiten Wortwechsel. Jesus fordert einen von seinen Zuhörern auf, ihm nachzufolgen. Dieser sagt sofort zu, will aber vorher den eigenen Vater begraben. Das ist jedenfalls verständlich und legitim, das gehört wohl in allen Kulturen zu den elementaren Kindespflichten, das war und ist im Volk Israel sogar heilige Pflicht, entsprechend dem Gebot Du sollst Vater und Mutter ehren.

Läßt sich überhaupt verstehen, was Jesus hier gemeint haben kann? Läßt sich hier etwas anderes finden als die klare Aufforderung Jesu, gegen ein hohes Gebot zu verstoßen? Was Jesus hier fordert, ist objektiv unmöglich, klingt wie Spott: Laß die Toten ihre Toten begraben. Soll der Vater wirklich unbegraben bleiben?

Was hier gemeint ist, werde ich sogleich – im Zusammenhang mit dem nächsten Wortwechsel – herauszufinden versuchen.

 Im dritten Wortwechsel will einer mit Jesus gehen, aber zuvor Abschied nehmen von denen, die in seinem Haus sind. Das Bescheidsagen ist nötig, denn seine Lieben müßten sich Sorgen machen, wenn er ohne Abschied einfach verschwände. Das wäre doch absolut lieblos gegen die engsten Verwandten, und Jesus predigt ja gerade die Liebe, ja, er fordert sogar zur Feindesliebe auf.

Aber hier reagiert er sehr schroff: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes. Jesus schmäht buchstäblich die Rücksicht, den Blick zurück. Ist ihm hier die Geschwindigkeit des Aufbruchs wichtiger als Rücksicht aus Liebe?

Soll der Angesprochene wirklich wortlos verschwinden und seine Lieben in Sorge zurücklassen? Es ist doch schlimm genug, daß die zurückbleibenden Eltern, Ehepartner, Kinder zusehen müssen, wie sie ohne ihren Ernährer zurechtkommen.

Was ist allen drei Wortwechseln gemeinsam? Ein Wort am Anfang ist es, in der Eröffnung. Im ersten Wortwechsel spricht einer zu Jesus: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Im zweiten spricht Jesus zu einem anderen: Folge mir nach! Im dritten spricht wieder ein anderer: Herr, ich will dir nachfolgen. Es geht dreimal darum, mit Jesus mitzugehen, als sein Schüler von ihm zu lernen, seinen Worten zu folgen und, wo es möglich ist, seinem Vorbild.

"Nachfolge" heißt auch ein Buch eines – wenn Sie so wollen – evangelischen Heiligen, der 1906 geboren wurde, vor 100 Jahren: Dietrich Bonhoeffer. Er hat den Ernst der Nachfolge erkannt, beschrieben und gelebt. Er ist, wie sein Freund und Biograph Eberhard Bethge sagte, vom Pfarrer zum Christen geworden und vom Christen zum Zeitgenossen. Das ist paradox, verkehrt herum – und doch treffend gesagt. Bonhoeffer hat nicht nur als Pfarrer und Seelsorger und Menschenhirt andere Christen begleitet und angeleitet, sondern sich selbst in die Nachfolge Christi rufen lassen. Und er hat nicht nur allgemein christlich gelebt, sondern das auf sich genommen, was zu seiner Zeit nötig war: Er hat sich als Zeitgenosse für die Juden eingesetzt, gegen die Bedrängung der Juden durch die Nationalsozialisten, er allein trotz des verständnislosen Kopfschüttelns seiner Kirche, die ihn im Stich ließ. Er hat, nach geglückter Ausreise, auf eine glänzende Karriere als Theologieprofessor in den USA verzichtet, ist nach Deutschland zurückgekehrt und hat hier stellvertretend für andere das getan, was nötig war. Er hat dabei sehenden Auges sein Leben riskiert und wurde wenige Tage vor Kriegsende hingerichtet.

Bonhoeffer war nicht der einzige; bekannt sind auch Hans und Sophie Scholl und Paul Schneider. Aber es gab noch viele Menschen mehr, die ihr Leben einsetzten und verloren. Vorgestern zur Leipziger Buchmesse erschien ein Buch mit immerhin 499 Lebensbeschreibungen von evangelischen Märtyrern des 20. Jahrhunderts unter dem Titel  "Ihr Ende schaut an... "  (ISBN 3-374-02370-3).

Zum Glück haben wir heute in Deutschland keine verbrecherische Obrigkeit, und solche Opfergänge sind jetzt nicht nötig. Aber es gibt noch viel Ungerechtigkeit in Deutschland und noch mehr in entfernten Ländern, und vom Reich Gottes scheinen wir weit entfernt zu sein.

Einige Menschen lassen sich / durch die Not in der Welt / herausrufen aus ihrer gewohnten Umgebung und bewegen Großes. Bekannt sind etwa Ruth Pfau, die in Pakistan die Lepra überwunden hat, Hermann Gmeiner mit seinen Kinderdörfern, Karl-Heinz Böhm mit seinen Projekten in Afrika und hier in Bonn Rosi Gollmann mit ihrer Andheri-Hilfe. Nicht weit von hier, in Bad Honnef, ist Casa Alianza tätig mit Franz Hucklenbruch. Unsere Gemeinde hat über Jahre hinweg über Casa Alianza ein Familienprojekt in Guatemala unterstützt, bis diese Familie unsere Hilfe nicht mehr brauchte.

Immer wieder vollbringen besondere Menschen besondere Leistungen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie das nur aus Pflichtbewußtsein tun oder gar unfroh und widerwillig. Solche Lebensentwürfe mit dem Einsatz des ganzen Lebens können Antworten auf den Ruf Jesu sein, also Nachfolge unter den Bedingungen einer anderen Zeit als der, in der Jesus lebte.

Gilt nun dieser kompromißlose Ruf nur besonderen Menschen? Oder gilt er allen, die sich von Jesus ansprechen lassen? Wanderprediger brauchen seßhafte, produktive Menschen zum Überleben. Auch Jesus hat Nahrung und Kleidung gebraucht. Im Altertum kannte man drei Wege, den Lebensunterhalt zu verdienen: betteln, stehlen oder etwas leisten. Wenn ich nicht gerade alle Rohstoffe auf dem eigenen Grundstück habe und alles selber herstellen kann, was ich brauche, dann bin ich bei allen drei Tätigkeiten auf andere angewiesen. Jesus sagt zum reichen Jüngling: Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach. Der aber kann nur verkaufen, wenn es auch Käufer gibt.

So kann man auch an weiteren Stellen des Neuen Testaments zeigen, daß unmöglich alle Menschen dem Ruf Jesu so kompromißlos folgen können, wie unser Text nahelegt. Aber solches Wörtlichnehmen und Überziehen wird dem Ruf nicht gerecht, den Jesus an seine Hörer und an uns richtet. Jesus ließ sich ab und zu von Mitmenschen bewirten. Er und seien Jünger konnten nur als Wanderprediger leben, weil es auch seßhafte Menschen gab, die für die leiblichen Bedürfnisse sorgten. Jesus schmäht das nicht, auch wenn es so klingen mag. Er weist nur darauf hin, daß die täglichen Bedürfnisse und auch die familiären Pflichten zurückstehen müssen hinter dem Größeren, Endgültigen.

Das Schlüsselwort dafür steht im zweiten und im dritten Wortwechsel: das Reich Gottes. Dem zweiten Gesprächspartner sagt Jesus: Geh hin und verkünde das Reich Gottes! Dem dritten sagt er: Wer zurücksieht, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes. Daraus entnehme ich, worum es in der Nachfolge geht: Es geht um das Reich Gottes, die Königsherrschaft Gottes, in der es gerecht und zugleich barmherzig zugeht. Das ist das hohe Gut, hinter dem das Begräbnis und das Abschiednehmen zurückstehen müssen. Das Matthäus-Evangelium faßt das so zusammen: Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch [...] alles andere zufallen. (Mt 6,33 LÜ mit EÜ) Nachfolge gibt es nur mit ganzer Kraft, nicht nur ein bißchen.

Damit ist auch klar, daß Jesus große Opfer für ein hohes Ziel fordert. Vielleicht können wir das Reich Gottes verkünden helfen, wir können auch um sein Kommen bitten wie nachher im Vaterunser, wir können auch einzelne gute Werke im Sinne des erwarteten Gottesreiches tun, aber herbeiführen können wir das Reich Gottes nicht.

Ich sehe es so: Große geistliche Leistungen und Taten der Nächstenliebe sind Frucht der frohen Botschaft, sind Dank für Worte und Leben und Leiden Jesu, sind kein Verdienst, für das uns ein Lohn zustünde. Wer die Botschaft aufgenommen hat, der tut die Werke aus Freude und Dank und aus höherem Verstehen, sprich aus Heiligem Geist. Und der ist auch bereit, Bequemlichkeit und Sicherheit aufzugeben für das höhere Ziel.

Das hohe Ziel setzt auch die Reihenfolge. Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Dieses zuvor ist das Gefährliche. Man kann im Vorläufigen steckenbleiben und das Endgültige versäumen. Wie viele heilige Pflichten gibt es, die jemanden festhalten können? In wie vielen Familien leiden Menschen darunter, daß sie nicht freikommen? Es kann schwierig sein, den Konflikt zwischen Pflicht und Freiheit überhaupt zu erkennen. Vielleicht braucht es für manchen eine so grobe Aufforderung, laß die Toten ihre Toten begraben, damit er überhaupt sieht, daß er gefangen ist.

Diese drei Wortwechsel mit harten Worten Jesu schockieren. Es kann uns erschrecken, was alles nicht sein soll oder nicht zuerst sein soll: bequemes Haus und Nachtlager, vor dem Aufbruch eine Kindespflicht dem toten Vater gegenüber erfüllen, Abschied von der Familie. Immer wieder hat man versucht, diese Forderungen abzuschwächen, ihre Geltung einzuschränken auf besonders Berufene, auf Wandercharismatiker, Mönche und Heilige.

Wie alle biblischen Worte, so sind auch die Aufforderungen Jesu im heutigen Predigttext nicht direkt an uns gerichtet. Wer in der Bibel liest, ist immer selbst gefordert zu entscheiden, welchen Ruf er – oder sie – für sich selbst erkennt und annimmt. Immer wieder redet und wirkt der Text aus sich heraus, fordert auch uns heraus.

Lukas setzt diesen Text an den Beginn des Weges nach Jerusalem, in die Passion. Leben und Sterben, beides gehört zusammen, keins ist ohne das andere zu haben. Manches Leiden ist unvermeidlich, aber Jesus nimmt viel mehr auf sich. Der erste Wortwechsel beginnt: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Jesus antwortet sinngemäß: Weißt du auch, worauf du dich da einläßt? Oder später zu den Söhnen des Zebedäus: Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?

Habe ich jetzt den Text verharmlost und entschärft? Hoffentlich nicht. Dieser abschreckende Text hat trotz seiner Abschreckung seine Berechtigung, denn er steht nicht allein. Anderswo bei Lukas sagt Jesus: Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein. (14,26) Und wenig später: Jeder unter euch, der sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein. (14,33)

Wir sind aber auch zum Festmahl eingeladen. Viele sagen ab. Lassen wir uns einladen von der Zusage, die zugleich Aufforderung und Forderung ist. Prüfe jeder für sich, was ihn anspricht. Wir werden dem großen Ruf immer nur stückweise folgen können. Am Ende brauchen wir Gottes Vergebung. Auch um diese bitten wir immer wieder im Vaterunser, und sie ist uns zugesagt, wir können und sollen auf den liebenden Vater vertrauen.

 


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten