Vom Pharisäer und Zöllner

Predigt zu Lukas 18,9-14 in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 10. August 1997

Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die anderen, dies Gleichnis:
Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig.
Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

(Lukas 18,9-14, nach der Übersetzung Martin Luthers)

Auf den ersten Blick scheint alles ganz einfach zu sein mit diesem Gleichnis. Wir wissen doch, daß alle Pharisäer Heuchler sind. Wer an der Nordseeküste im Gasthaus einen "Pharisäer" bestellt, bekommt eine Tasse Kaffee mit Rum und mit einer Sahnehaube. Es sieht aus, als trinke man Kaffee, in Wirklichkeit trinkt man Alkohol.

"Die Pharisäer sind hochmütige Heuchler" — dies Vorurteil ist unter Christen weit verbreitet. Ein ganzes Kapitel über die Pharisäer, verfaßt von dem Christen Matthäus, legt das sogar nahe (Mt 23). Die christliche Überlieferung und Deutung der Worte Jesu hat manche Vorurteile gegen Juden geschaffen und eine buchstäblich verheerende Wirkung gehabt. Wenn wir das Gleichnis verstehen wollen, müssen wir uns von dem Vorurteil befreien.

Für die Hörer Jesu war das Urteil über den Pharisäer ebenso überraschend wie der Freispruch für den Zöllner.

Die Pharisäer waren zur Zeit Jesu eine jüdische religiös-politische Partei, die Frommen im damaligen Judentum. Sie bemühten sich hart um den Gehorsam gegen das Gesetz, das heißt: die fünf Bücher Mose. Paulus war ein Pharisäer. Die Pharisäer waren besonders rechtschaffene, anständige und opferbereite Menschen.

Der Pharisäer im Gleichnis war noch besser als der Durchschnitt der Pharisäer. Jesus zeichnet für seine Hörer ein Musterbild eines frommen Menschen, das heißt, eines gerechten Menschen, der das ganze Gesetz erfüllt und sogar übererfüllt, eines Menschen nach dem Willen Gottes, ganz ohne Fehler. Jeder Zuhörer konnte nur neidisch sein: Ja, so ein guter Mensch müßte ich auch sein!

Vorgeschrieben war ein Fasttag pro Jahr. Er fastet zweimal pro Woche, um unbemerkte Gesetzesverstöße gutzumachen und Sünden des Volkes. Das war ein hartes Opfer, weil man trotz der Hitze tagsüber nicht trinken durfte.

Er zahlt die Tempelsteuer sogar für alles, was er kauft, auch wenn schon der Verkäufer den Zehnten bezahlt haben mußte. Manche Verkäufer haben schon damals die Steuer hinterzogen. Der Pharisäer will sicher sein, daß er nichts ißt, was nicht versteuert ist.

Mancher Rabbi empfahl damals den frommen Juden, Gott dafür zu loben, daß er sie nicht als Heiden oder Ungebildete oder Sünder erschaffen hat. Wenn der Pharisäer in seinem Dankgebet die Sünder erwähnt, ist das also kein Hochmut. Er dankt wirklich für Gottes Führung und Gottes Wohltat. Sein Gebet war nur ein Lob Gottes.

Der Pharisäer war nach jüdischer Lehre gerecht. Nach der Schrift hat er die Verheißung der zukünftigen Welt. Warum sagt Jesus, daß er nicht gerechtfertigt wird? Lukas begründet das nicht ausdrücklich.

Der Schlußsatz bei Lukas Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden (und umgekehrt) hilft uns nicht weiter. In diesem Gleichnis erhöht sich niemand, und niemand wird erniedrigt. Der Satz steht noch einmal bei Lukas (14,11) und paßt dort viel besser, gehört wohl ursprünglich dorthin.

Lukas schreibt im einleitendenden Satz: Jesus sprach zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die anderen. Der Pharisäer war für damalige Begriffe wirklich fromm. Und wenn das stimmt, was Theologen über die damaligen Pharisäer und Schriftgelehrten schreiben, bedeutet das Gebet des Pharisäers im Gleichnis keine Verachtung, sondern wirklich nur Dank. Was Lukas dem Gleichnis Jesu voransetzt, hilft uns auch nicht weiter.

Noch einmal: Warum sagt Jesus, der Pharisäer sei nicht gerechtfertigt? Aus dem Gleichnis allein kann ich das nicht verstehen. Ich muß hinzunehmen, wie Jesus sonst den Pharisäern begegnet.

Laut Matthäus sagt Jesus: Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und laßt das Wichtigste im Gesetz außer acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue. Man muß das eine tun, ohne das andere zu lassen. Blinde Führer seid ihr: Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele. (23,23-24)

Drei Kapitel vor unserem Gleichnis schreibt Lukas: Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm (zu Jesus), um ihn zu hören. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt sich mit Sündern ab und ißt sogar mit ihnen. (15,1-2) Sie empörten sich, weil Jesus sich durch solchen Umgang nach ihrer Meinung unrein machte.

Was Jesus allgemein über die Pharisäer sagt, gilt auch für den Pharisäer im Gleichnis: Er sondert sich vom Zöllner ab, um nicht unrein zu werden. Er erfüllt die großen und kleinen Vorschriften des Gesetzes bis zur Perfektion und mit Sicherheitsabstand, aber sein Mitmensch ist ihm eine Quelle der Unreinheit. Mir scheint genau das der Grund für Jesu Urteil über den Pharisäer im Gleichnis.

Warum erklärt Jesus den Zöllner für gerechtfertigt?

Die Zöllner hatten Zollstationen gepachtet; sie kassierten in die eigene Tasche. Sie arbeiteten mit der verhaßten Besatzungsmacht zusammen. Sie wurden angesehen wie Räuber, hatten keine bürgerlichen Ehrenrechte.

Dieser Zöllner weiß sich als Sünder. Damit er vor dem Gesetz bestehen könnte, müßte er das zuviel Genommene zurückgeben, und ein Fünftel dazu. Aber wem sollte er Geld zurückzahlen? Nach dem Gesetz kann er nie mehr gerecht werden. Seine Lage ist hoffnungslos, und er weiß das.

Er hat Gott um Gnade angefleht. Ihm war es mit seinem Beten so ernst, daß er selbstverständlich künftig nur so viel Zoll nehmen würde, wie im Tarif stand.

Um Jesu Freispruch zu verstehen, brauche ich nur noch einen Satz hinzuzunehmen, der auch bei Lukas steht (15,7): Es wird mehr Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Was bedeutet das alles für uns? Ich sehe drei Lehren aus dem Gleichnis, nämlich eine aus dem, was Pharisäer und Zöllner im Gleichnis gemeinsam haben, eine aus Jesu Urteil über den Pharisäer und eine aus dem Freispruch für den Zöllner.

Beiden, dem Pharisäer und dem Zöllner, geht es um das Urteil vor dem Richterstuhl Gottes. Bedeutet es uns überhaupt etwas, ob Gott uns freispricht oder nicht?

Erste Folgerung aus dem Gleichnis heute muß wohl sein, Gott für unser Leben ernst zu nehmen, wie der Pharisäer und der Zöllner.

Martin Luther war ganz beunruhigt von der Frage "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" Davon hing für ihn sein Leben ab.

Heute sagen wir eher: Ich bin so gut, wie ich kann, ich tue nichts ganz Schlimmes, und den Rest wird der liebe Gott schon richten. Sind wir heute schon zufrieden, wenn wir uns selber gut genug finden?

Wir sind aber nicht selbst die Instanz, die uns verurteilt oder freispricht. Wir müssen selber immer wieder neu maßnehmen an dem, was Jesus uns als unsere Möglichkeit vollen Menschseins geschildert hat, und wir müssen uns am Ende von Gott messen lassen an dem, was wir hätten tun können.

Eine zweite Folgerung aus dem Gleichnis entnehme ich dem Jesu Aussage über die Pharisäer: Wichtiger als das Halten der äußerlichen Gebote sind Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue gegenüber den Mitmenschen.

Wer auch nur ein bißchen aufmerksam ist, wird öfters in seinem Leben gemerkt haben, daß er einem Mitmenschen nicht gerecht geworden ist, nicht genug Liebe für ihn hatte, nicht genug Einfühlungsvermögen oder Einfallsreichtum. Das ist Schuld, und wir müssen mit solcher Schuld leben.

Jeder hat an irgendeiner Stelle Mühe, sein Leben zu bewältigen. Mancher braucht dringend Hilfe, und manchem könnten wir helfen. Es kommt darauf an, diese Stelle beim Nächsten wahrzunehmen und das Nötige zu tun.

Jetzt kommt die dritte und letzte Folgerung aus dem Gleichnis, die aus dem Freispruch des Zöllners.

Wir sehen leichter den Splitter bei anderen als den Balken im eigenen Auge (Mt 7,3). Der Zöllner leidet unter seinem Balken und ist verzweifelt, weil er ihn nicht alleine wegschaffen kann.

Wir mögen denken, daß wir an keiner Stelle so krasse Sünder sind wie der Zöllner. Wir mögen dessen überdrüssig sein, daß die Kirche uns irgendeine Schuld einreden will. Wir mögen auch auf die billige Gnade für alle vertrauen.

Aber Gott mag das ganz anders sehen. Wir sind, wie gesagt, nicht selbst die Instanz, die über uns urteilt. Jeder von uns wird eine Schuld wissen, die ihn drückt oder drücken sollte.

Vielleicht gibt es jemanden unter Ihnen, der keine Schuld an sich findet, der niemals einem anderen Menschen etwas schuldig geblieben ist, der sich nicht für ein früheres Verhalten schämt. Ihn brauche ich nur an unseren Alltag zu erinnern. Die Erde wäre ganz schnell ruiniert, wenn alle fünf Milliarden Menschen so viel Energie und Rohstoffe verbrauchen würden wie die Sparsamsten von uns hier in Deutschland. Und genau wie der Zöllner wissen wir nicht, wie wir diese Schuld aus der Vergangenheit loswerden können — oder wie wir sie wenigstens für die Zukunft vermeiden.

Der Zöllner hat begriffen, daß er so nicht weitermachen kann. Er ändert sich und sein Verhalten. Er tut Buße, wie das altmodisch heißt.

Beim Evangelisten Markus lautet gleich der erste Aufruf Jesu: Tut Buße und glaubt an das Evangelium. Mit anderen Worten heißt das: Ändert euren Sinn und vertraut der frohen Botschaft Jesu.

Dies Gleichnis will uns sagen: Dreht euch nicht um euch selber, seid gerecht, barmherzig und treu zu den Mitmenschen, und dann vertraut auf Gottes Freispruch.

Fürbitten

Herr und Gott, Vater im Himmel, du hast uns deinen Sohn Jesus Christus gesandt, damit wir dich erkennen, deinen Willen tun und dich preisen.

Wir bitten dich für alle, die dich suchen:
Laß sie dich im Leben und Lehren deines Sohnes Jesus Christus erkennen.

Wir bitten dich für alle, die mit sich selbst zufrieden sind:
Hilf ihnen, daß sie ihren Nächsten in den Blick bekommen, vor allem ihren bedürftigen Nächsten.

Wir bitten dich für alle, die durch ihre Arbeit in Gefahr stehen, anderen zu schaden und sie zu übervorteilen:
Hilf ihnen, sich an deine Gebote zu halten.

Wir bitten dich für alle, die schuldig geworden sind und unter ihrer Schuld leiden:
Laß sie erfahren, daß sie ganz neu anfangen dürfen.

Wir bitten dich besonders:
Hilf uns allen, zu unseren Mitmenschen gerecht, barmherzig und treu zu sein.

In der Stille bringen wir vor dich, was uns noch bewegt.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten