Die ungleichen Söhne

Predigt in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 15. August 1999, 11. Sonntag nach Trinitatis, Matthäus 21,28-32


Der Predigttext für heute steht in Matthäus 21. Er besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist ein kurzes Gleichnis. Jesus erzählt es den Hohenpriestern und den Ältesten des Volkes. Nach dem Gleichnis fragt er seine Zuhörer, was sie davon halten. Ich mache nach dieser Frage eine kurze Pause als Bedenkzeit für Sie.

- Was meint ihr? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute es ihn, und er ging hin.
- Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe. Der aber antwortete und sprach: Ja, Herr! und ging nicht hin.
- Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan?

- Sie antworteten: Der erste.
- Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr.
- Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr's saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, so dass ihr ihm dann auch geglaubt hättet.

1. Dieses Gleichnis von den ungleichen Söhnen ist ganz einfach: Der erste Sohn sagt "Nein, ich will nicht" und geht dann doch arbeiten, der zweite sagt "Ja, Herr" und geht dann nicht hin. Jesus fragt: Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan?

Da ist nur eine Antwort möglich. Es genügt nicht, "Ja, Herr" zu sagen, sondern auf das Tun kommt es an. Wir haben ja im Ohr, was Jesus gegen Ende der Bergpredigt sagt (7,21): Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen meines Vaters im Himmel tun.

Wenn man das Gleichnis für sich alleine betrachtet, könnte man denken, es wollte uns die Moral machen. Die Menschen, die Gutes tun, kommen in den Himmel. Aber bevor wir eine Aussage Jesu als Moral ansehen, sollten wir immer vorsichtig sein. Jesus will viel mehr, als nur seinen Hörern Moral einzupauken.

2. Wir dürfen das Gleichnis nicht allein betrachten. Wir sollten schon gar nicht versuchen, uns sofort in dem einen oder anderen Sohn wiederzufinden, auch wenn uns das lockt. Jesus will nicht uns einen Spiegel vorhalten. Wir müssen genauer fragen: Warum erzählt Jesus dieses Gleichnis? Was will er seinen Hörern damit sagen?

Dazu beachten wir die anschließenden Worte. Jesus fährt fort: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr.

Das kann doch nur heißen, die Zöllner und Huren haben eher den Willen Gottes getan als seine Hörer. Jesus spricht, wie gesagt, zu den Hohenpriestern und zu den Ältesten des Volkes. Die führten einen untadeligen Lebenswandel. Sie bemühten sich mit allen Kräften darum, den Willen Gottes zu tun. Sie waren aus gutem Grund hoch angesehen.

Trotzdem greift Jesus sie an. Er vergleicht die Oberschicht seines Volkes, zugleich die Frömmsten, mit Zöllnern und Huren. Schon das ist für seine Zuhörer ein ganz starkes Stück, eine ungeheure Frechheit. Jesus greift seine Hörer an und provoziert sie.

Nicht nur, dass er sie überhaupt mit denen vergleicht, die das Gesetz nicht halten. Er sagt sogar: Ob ihr Frommen ins Himmelreich kommt, das ist sehr zweifelhaft. Die Menschen, die ihr verachtet, die Zöllner und Huren, kommen eher ins Reich Gottes als ihr. Man kann das auch so verstehen: Die Zöllner und Huren kommen ins Reich Gottes, ihr aber nicht.

Jesus sagt damit: Es gibt vor Gott keine unverbesserlichen Sünder und keine fraglos Gerechten. Niemand ist von vornherein disqualifiziert, und niemand ist perfekt, kann auf Verdienste pochen oder Ansprüche gegen Gott geltend machen.

Zöllner und Huren hatten durch ihren Beruf häufig mit Nichtjuden zu tun. Den Frommen galten sie deshalb als unrein. Sie konnten gar nicht gesetzestreu leben. Die Zöllner damals galten obendrein als Betrüger. Und selbst wenn ein Zöllner nur nach Tarif kassierte: Alle Zöllner arbeiteten mit der römischen Besatzungsmacht zusammen, gegen das eigene Volk. Schon deshalb wurden sie gehasst und verachtet.

Die Hohenpriester und die Ältesten wussten sich also um viele Klassen besser als die Zöllner und Huren, gemessen am Gesetz Gottes und an den Propheten. Aber Jesus sagt ihnen: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr.

Er verurteilt Menschen, die mit allen ihren Kräften das geschriebene Gesetz Gottes erfüllen. Umgekehrt nimmt Jesus Menschen an, die vom Gesetz verurteilt werden. Jesus stellt sich mit dieser Behauptung über das Gesetz.

Wenn ich das in heutige Verhältnisse übersetzen will, kommt nur ein schwacher Abglanz davon heraus, etwa so: Obdachlose und Drogensüchtige, Säufer und Huren kommen eher in den Himmel als ihr hoch ehrbaren Leute, ihr Bischöfe, ihr Minister und Konzernvorstände, ihr guten Christen, Pfarrer, Predigthelfer und Kirchenbesucher.

3. Warum kommen die Verachteten eher in den Himmel als die Ehrbaren? Jesus gibt selbst eine Begründung. Er sagt: Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr's saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, so dass ihr ihm dann auch geglaubt hättet.

Jesus wirft den Pharisäern und Ältesten vor, sie hätten keine Buße getan. In anderen Übersetzungen heißt es, sie hätten nicht bereut, sich nicht besonnen.

Damit sind wir beim Kern des Predigttextes. Beide, Johannes und Jesus, beginnen ihr öffentliches Wirken mit dem Ruf Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! (Mt 3,2; 4,17) Was heißt das, Buße tun, bereuen, sich besinnen? Hier haben wir drei Benennungen für eine Sache, und wir müssen versuchen, die Sache zu verstehen. Es ist sicher mehr gemeint als eine einfache Sinnesänderung.

Der erste Sohn im Gleichnis hat sich besonnen. Jetzt können wir verstehen, warum Jesus das Gleichnis erzählt hat. Er wollte seine Zuhörer dazu bringen, sich selbst das Urteil zu sprechen. Der erste Sohn hat Buße getan, die Hohenpriester und Ältesten aber nicht.

Noch einmal: Was heißt das, Buße tun? Das Wort Buße ist inzwischen ein bisschen verdorben. Das zeigt etwa das Wort Bußgeld oder der Satz "Das sollst du mir büßen". Ich nenne das hier die kleine Buße, das ist eine Strafe oder auch die Wiedergutmachung angerichteten Schadens. Die meint Jesus in seinem Schlusssatz zum Gleichnis nicht.

Im Neuen Testament heißt Buße tun soviel wie umkehren zu Gott oder sich bekehren, auch bereuen, jedenfalls sich ganz Gott zuwenden und für ihn und seine Überraschungen offen sein. Ich nenne das hier die große Buße. Die Sache selbst gab es in Israel schon lange vor Jesus. Sie findet sich an vielen Stellen bei den Propheten, besonders bei Jeremia (8,4ff; 26,3.13; 31,18f; 4,1; 18.8; 25,5; 26,3; 35,15; 36,3.7).

Diese Buße ist auch im Gleichnis angedeutet: Der erste Sohn ändert nicht nur seinen Sinn. Er tut viel mehr: Er tut dann den Willen des Vaters, und darauf kommt es an. Im Alten wie im Neuen Testament wird diese Buße an vielen Stellen weiter ausgeführt.

Buße ist beides: eine einmalige Umkehr oder Bekehrung und eine dauerhafte entschiedene Zuwendung zu Gott, eine lebendige Beziehung zu Gott.

4. Sprechen wir zuerst von der einmaligen Bekehrung.

Sie alle sitzen hier schon in der Kirche, weil Sie Gottes Ruf gehört haben und ernst nehmen, sich Gott zugewandt haben oder ihm wenigstens zuwenden wollen. Vielleicht hat jemand ein überwältigendes Bekehrungserlebnis gehabt, ungefähr wie Paulus vor Damaskus.

Jesus sagt nun: Die Übeltäter sind viel eher bereit und fähig, dem Ruf zur Umkehr zu folgen, als die Gesetzestreuen. Die Pharisäer werden gehindert durch ihre Überzeugung, bereits gerecht zu sein. Jesus wendet sich mehr den Verachteten zu. Wir Angesehenen und Gesetzestreuen sollen uns die zum Vorbild nehmen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen.

Muss nun eine Bekehrung für das ganze Leben vorhalten? Das ist ein Ideal, dem nicht einmal der Apostel Paulus folgen konnte. Er klagt im Römerbrief (7,18b-19): Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Paulus war geistlich, charakterlich und auch intellektuell ein Riese. Wenn das schon ihm so ging, dann brauchen auch wir nicht zu verzagen, wenn wir mehrere Anläufe zum Guten brauchen.

Ich halte so eine spektakuläre und endgültige Bekehrung wie bei Paulus für eine Ausnahme, für eine besonderes Geschenk. Wir sollten auch immer darauf gefasst sein. Aber meist wächst der Glaube langsam. Dabei gibt es ab und zu einen Augenblick, wo einem ein Licht aufgeht, einen Wachstumsschub sozusagen. Es ist gut, wenn wir auf solche Erleuchtungen gefasst sind. Wir sollten aber nicht untätig darauf warten.

5. Damit sind wir schon beim zweiten Teil der Buße, der dauerhaften, umfassenden Zuwendung zu Gott. Ich nenne das lieber eine lebendige Beziehung zu Gott. Wie baut man sie auf und wie pflegt man sie? Ein Stück weit hilft uns der Predigttext.

Am klarsten ist die Zuwendung zu Gott, wenn sie so geschieht, wie Jesus das im Gleichnis darstellt: Der Sohn geht hin und tut, was der Vater gesagt hat. Das Tun kann uns helfen, zum Glauben zu finden. Ohne Tun gibt es keinen Glauben: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen (Mt 7,20).

Falsch ist nur, aus dem Tun des Guten irgendwelche Ansprüche herzuleiten oder sich besser zu dünken als andere, die weniger Gutes tun.

Im Predigttext sagt Jesus: Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg. Was ist dieser Weg? Bei Lukas stehen einige Beispiele (3,10ff):
Als Johannes der Täufer zur Buße aufrief, fragten die Menschen: Was sollen wir denn tun? Johannes antwortete: Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso.
Den Zöllnern sagte er: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist!
Den Soldaten sagte er: Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold!

Das sind Beispiele. Sie betreffen den Umgang mit unseren Mitmenschen. Auch die Arbeit, die der Sohn im Gleichnis tun sollte, war Arbeit für die Mitmenschen. Für jeden Hörer damals war das klar: Der Vater fordert Arbeit im Weinberg, das heißt, Gott fordert Dienst für sein Volk.

Betendes Nachdenken über diesen Dienst gehört dazu, ebenso wie die Bitte um Kraft.

6. Ich fasse zusammen.

Jesus greift die hoch Angesehenen an, die mindestens so anständig leben wie wir und denen das Gesetz Gottes das Wichtigste im Leben ist. Er wirft ihnen vor, dass sie nicht Buße tun, das heißt, sich nicht ganz Gott zuwenden und für ihn und seine Überraschungen offen sind.

Trotzdem fordert Gott auch gute Taten, obwohl nicht an erster Stelle. Ein Glaube, aus dem nichts folgt, ist nichtig. Gott fordert Arbeit im Weinberg, das heißt Dienst für sein Volk, also für unsere Mitmenschen. Ihnen gerecht werden heißt mitfühlen und das Nötige tun. Gesetzestreue und Pflichterfüllung genügen nicht.

Menschen, die von vielen verachtet werden und mit denen wir nichts zu tun haben wollen, waren Jesus die liebsten. Es ist gut, daran wenigstens zu denken, wenn wir an ihnen vorbeigehen.

Und es ist gut, immer auf Anrufe Gottes gefasst zu sein, Anrufe durch unsere Mitmenschen und durch das Wort der Bibel, die Berichte von Jesus.

7. Zum Schluss lese ich Ihnen den Predigttext aus Matthäus 21 noch einmal vor, diesmal aus der Einheitsübersetzung.
- Was meint ihr? Ein Mann hatte zwei Söhne. Er ging zum ersten und sagte: Mein Sohn, geh und arbeite heute im Weinberg! Er antwortete: Ja, Herr!, ging aber nicht.
- Da wandte er sich an den zweiten Sohn und sagte zu ihm dasselbe. Dieser antwortete: Ich will nicht. Später aber reute es ihn, und er ging doch.
- Wer von den beiden hat den Willen seines Vaters erfüllt? Sie antworteten: Der zweite.
- Da sagte Jesus zu ihnen: Amen, das sage ich euch: Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.
- Denn Johannes ist gekommen, um euch den Weg der Gerechtigkeit zu zeigen, und ihr habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und die Dirnen haben ihm geglaubt. Ihr habt es gesehen, und doch habt ihr nicht bereut und ihm nicht geglaubt.


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten