Predigt in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 28. Dezember 1997, Offenbarung 1-9.13-17
Begrüßung zu Beginn des Gottesdienstes:
Unsere Kirche kennt einige kleine Feste in ihrem liturgischen Kalender. Der 28. Dezember ist so ein Fest, der Tag der Unschuldigen Kinder. In diesem Jahr fällt er auf einen Sonntag. Streng genommen verdrängt der Sonntag diesen Gedenktag, bei uns genauso wie in der katholischen Kirche. Aber dann gibt es hier kaum jemals einen Gottesdienst zu diesem Fest, und deshalb nehme ich es diesmal nicht so streng. Wir begehen also heute den Gedenktag der kleinen Kinder, die Herodes in Bethlehem umbringen ließ. Das Fest ist ein Christusfest; deshalb hängt dort das weiße Kanzeltuch.
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Dieser Friedenswunsch steht im ersten Kapitel der Offenbarung des Johannes. Im selben Buch steht auch der Predigttext für heute, den ich nachher lesen werde. Damit Sie den Text besser einordnen können, sage ich zunächst etwas über die Offenbarung des Johannes im ganzen.
Dies Buch der Bibel ist ein Brief, denn vor dem Friedenswunsch steht: Johannes an die sieben Gemeinden in der Provinz Asien. Die römische Provinz Asien war etwa das Gebiet der heutigen Türkei. Die sieben Gemeinden sind namentlich genannt, und jede von ihnen wird in besonderer Weise angesprochen. Aber die Zahl sieben deutet auch auf alle Gemeinden, auf die ganze Christenheit.
Johannes schrieb die Offenbarung zwischen 90 und 95 nach Christus. Die christlichen Gemeinden in Kleinasien wurden damals hart bedrängt. Die Christen sollten den römischen Kaiser als Gott verehren. Es drohte eine totale Konfrontation der Christen mit den staatlichen Behörden. Ein Konflikt auf Leben und Tod stand bevor. Johannes will nun den Gemeinden Mut machen und sie zugleich vor dem Bösen warnen. Er betont mit diesem Brief, daß Jesus Christus der Herr der Welt und der Herr der Geschichte ist.
Johannes sagt so gut wie gar nichts über sich selbst. Er nennt sich einen Knecht Gottes, aber so nennt er alle anderen Christen auch. Außerdem sagt er, daß er auf der Insel Patmos war, um des Zeugnisses von Jesus willen, also vielleicht in der Verbannung. Aus Sprache und theologischem Inhalt der Offenbarung folgt, daß dieser Johannes ein anderer ist als der Verfasser des Johannesevangeliums und des ersten Johannesbriefs. Neben Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelisten haben wir also einen dritten wichtigen Johannes im Neuen Testament. Manche nennen ihn "den Seher aus Patmos". -
Dieser Johannes war anscheinend in den Gemeinden gut bekannt und als Prediger hoch angesehen, so daß er sich nicht vorzustellen brauchte. Er kam aus judenchristlichen Kreisen.
Seine Offenbarung spricht in Bildern. Das ist nichts Ungewöhnliches für die Bibel. Nur sind es in den anderen Büchern meist sprachliche Bilder, Gleichnisse, während hier viele Bilder richtig gemalt werden, soweit das mit Worten möglich ist. Wie man aus Gleichnissen den Sinn herausfinden muß, so müssen wir das auch bei diesen gemalten Bildern. Nur so viel möchte ich zur Offenbarung als ganzer sagen. -
Der Predigttext ist ein kurzes Stück in der Mitte dieses Buches. Er ist der Anfang eines Mythos. Ein Mythos ist eine Erzählung von Vorgängen zwischen Göttern, Dämonen und Helden, die Auskunft geben will über Ursprung und Wesen der Welt und über die Stellung des Menschen in der Welt. Der Seher Johannes gestaltet diesen Mythos eigenwillig aus Teilen damals bekannter Mythen.
In einer Bibelausgabe steht vor unserem Text die Überschrift "Der Kampf des Satans gegen das Volk Gottes" (Einheitsübersetzung 12,1-14,5). Das Volk Gottes ist hier als eine Frau dargestellt. Die Zwölfzahl der Sterne verweist auf die zwölf Stämme Israels. Das war damals für jeden verständlich. Völker und Städte wurden oft als Frauen dargestellt. -
Ich lese aus Kapitel 12 der Offenbarung des Johannes (1-9.13-17).
Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel, eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Kindsnöten und hatte große Qual bei der Geburt. - Und es erschien ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe, ein großer roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen, und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor die Frau, die gebären sollte, damit er, wenn sie geboren hätte, ihr Kind fräße. - Und sie gebar einen Sohn, einen Knaben, der alle Völker weiden sollte mit eisernem Stabe. Und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und zu seinem Thron. Und die Frau entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hatte, bereitet von Gott, daß sie dort ernährt werde tausendzweihundertundsechzig Tage. - Und es entbrannte ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Und der Drache kämpfte und seine Engel, und sie siegten nicht, und ihre Stätte wurde nicht mehr gefunden im Himmel. Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen. - (...) - Und als der Drache sah, daß er auf die Erde geworfen war, verfolgte er die Frau, die den Knaben geboren hatte. Und es wurden der Frau gegeben die zwei Flügel des großen Adlers, daß sie in die Wüste flöge an ihren Ort, wo sie ernährt werden sollte eine Zeit und und zwei Zeiten und eine halbe Zeit fern von dem Angesicht der Schlange. - Und die Schlange stieß aus ihrem Rachen Wasser aus wie einen Strom hinter der Frau her, um sie zu ersäufen. Aber die Erde half der Frau und tat ihren Mund auf und verschlang den Strom, den der Drache ausstieß aus seinem Rachen. Und der Drache wurde zornig über die Frau und ging hin, zu kämpfen gegen die übrigen von ihrem Geschlecht, die Gottes Gebote halten und haben das Zeugnis Jesu.
Das große Thema dieser Erzählung ist die Bedrohung der Menschen durch die Macht des Bösen. Der Drache ist nicht nur die Schlange aus dem Paradies, er ist die chaotische Macht schlechthin, der Widersacher gegen Gott.
Er will das Kind verschlingen. Das Kind ist der verheißene Messias des Volkes Israel. "Messias" oder "Christus" heißt "der Gesalbte", also der König. Der eiserne Stab steht für die herrscherliche Vollmacht, für die Herrschaft über die Heiden (Ps 2). Johannes schreibt: Das Kind wurde entrückt zu Gott. Die passive Form steht für Gottes Handeln. Der Messias ist nun bei Gott, ist also gerettet. Christus ist auferweckt worden.
Weil das Kind so offensichtlich für Jesus Christus steht, hat mittelalterliche Marienfrömmigkeit die Frau in dieser Erzählung als Jesu Mutter gedeutet, als Maria. Deshalb sieht man Gemälde, in denen Maria auf der Mondsichel steht. Man kann die gute Botschaft gewiß auch so einkleiden. Allerdings hilft uns diese Deutung nicht zum Verständnis des Textes.
Die Frau in der Erzählung, das Volk Gottes, flieht in die Wüste und bleibt weiterhin durch den Drachen gefährdet. Der Drache kann viele Sterne vom Himmel fegen. Das heißt, er hat unermeßliche Kraft. Rot ist die Farbe des Blutes, hier auch des Mordes und der tödlichen Bedrohung. Was wird aus der Frau, aus dem Volk Gottes?
In der Wüste leidet das Volk zwar Not, ist aber unter Gottes Schutz, wie schon beim Auszug aus Ägypten. Die Erzählung schildert in Bildern die Not und die Bewahrung des ganzen Gottesvolkes in der Endzeit. Gottes Widersacher ist stark, ist aber nicht Gott ebenbürtig. Im Himmel ist er schon besiegt. Auf der Erde jedoch bäumt er sich noch einmal auf und zeigt seine volle Kraft. Das Volk Gottes muß damit rechnen, daß sich die Feindschaft der Chaosmächte mit voller Wucht auf sie entladen wird. Die hier geschilderte Endzeit ist ein letzter, vergeblicher Kampf der gottfeindlichen Mächte gegen die Herrschaft Gottes und Jesu Christi. -
Johannes will den Gemeinden Mut machen, eine schwere Anfechtung durchzustehen. Die römischen Behörden verlangen von den Christen, den römischen Kaiser als Gott anzuerkennen. Wer ihn nicht anbetet, wird verfolgt. Die Kirche muß in die letzte Verfolgung hineingehen, aber der Satan kann nicht gewinnen.
Erwartete Johannes einen echten Drachen auf der Erde als Ende der Welt? Das denke ich nicht. Im Text ist ausdrücklich von Zeichen am Himmel die Rede. Wir müssen also eine zeichenhafte Rede verstehen. Die Gefahr und Bedrohung, von der dieser Text spricht, ist vermutlich nicht ein Weltuntergang, sondern die Macht des Bösen. Johannes warnt seine Leser nicht vor einer Naturkatastrophe, sondern vor dem tödlichen Druck der römischen Regierung und mehr noch vor der Versuchung, unter diesem Druck den christlichen Glauben zu verleugnen. -
Im Evangelium haben wir von einer anderen regierungsamtlichen Untat gehört: Herodes ließ alle Kinder bis zu zwei Jahren in Bethlehem umbringen. Herodes der Große war wirklich ein grausamer Herrscher. Er hat viele Menschen ermorden lassen, um seine Macht zu sichern. Ob der Kindermord von Bethlehem wirklich stattgefunden hat, ist für die Historiker zumindest unsicher. Aber dem Herodes war er zuzutrauen. Ein paar Kleinkinder in Bethlehem, das war nichts neben der Staatsraison.
Bis in unsere Zeit hinein geschehen solche Massenmorde durch Regierende an Wehrlosen, sogar unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Srebrenica ist noch nicht lange her, in Nordkorea läßt eine verbohrte Regierung die Menschen hungern und viele Kinder verhungern, und im Kosovo unterdrücken Serben die einheimische albanische Bevölkerung so hart, daß daraus jederzeit ein Bürgerkrieg entstehen kann.
Das alles sind Untaten von Machthabern. Wir sind keine Machthaber. Der Knecht Johannes schreibt auch nicht den römischen Machthabern ins Gewissen, sondern er schreibt den christlichen Gemeinden zur Stärkung. Er fordert sie auf, ihren Glauben auch gegen die Bosheit von Machthabern damals in einer glaubensfeindlichen Welt zu bekennen und zu leben. -
Was bedeutet das für uns heute? Was ist heute von uns gefordert? Welcher siebenköpfige Drache bedroht die Gemeinden heute? Die Regierung jedenfalls nicht. Unser Staat beschützt die Kirche und gibt ihr Vorrechte, von der Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts über die Mitsprache bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bis zu Geldzahlungen an Kirchen.
Vielleicht sind es gerade diese Vorrechte, die heute die Kirche bedrohen. Sie können die Kirche träge machen. Sie können uns hindern zu sehen, wie Reichtum und Armut auseinanderklaffen. Viele von uns hier in Holzlar können ganz sorglos leben und sich von schönen Dingen gefangennehmen lassen. Dann wird es schwer, die Not anderer zu sehen.
Hinter manchen Haustüren in unserer recht reichen Gemeinde gibt es Not, die ich mir bis vor kurzem nicht vorstellen konnte. Auch in Holzlar wohnen Arbeitslose und Überschuldete, und auch bei wohlhabenden Menschen gibt es lebensbedrohliche Krankheiten, psychische Störungen, Zank, Sucht und Einsamkeit. Wenn Kinder im Haus sind, leiden sie am meisten. Kindesmißhandlung soll auch in äußerlich guten Familien vorkommen. -
Traditionell wird der 28. Dezember den Kindern gewidmet, die heute unschuldig leiden. Ich spreche deshalb vor allem von dem, was wir Kindern antun und was wir der nächsten Generation weitergeben.
Kinder können unsere große Freude sein. Dante Alighieri sagt das so: Drei Dinge sind uns vom Paradies geblieben, die Sterne, die Blumen und die Kinder. Wir sind den Kindern alle Anstrengungen schuldig. Vergleichen wir das mit der Wirklichkeit, die wir unseren Kindern bereiten. Hier würde ich gern viel weniger aufzählen, aber fünf Punkte müssen sein: die Belastung der Familien, das Wohnen, die Ausbildung, Zeit für Kinder, die Belastung künftiger Generationen. Ich weiß, Klagen sind unbeliebt; deshalb werde ich nachher auch Gutes sagen.
Was können wir tun? Einiges tun wir schon in unserer Gemeinde, und ich kann Sie alle auch loben:
Weitere Hilfe für Kinder kommt durch die allgemeine Diakonie für Familien. Seit einigen Jahren versucht unser Diakonieausschuß, Hilfsbedürftige und Hilfsbereite zusammenzubringen. Viele melden sich zum Helfen, wenige fragen nach Hilfe. Ich höre dann: "Die Kirche ist nicht die Adresse, wo die Menschen Hilfe suchen." Ich höre sogar: "Die Kirchentür wirkt so, als hinge dort ein Schild 'Bitte nicht stören'." Wir brauchen aber ein Schild "Bitte stören Sie uns".
Da viele Menschen nun einmal nicht zu uns kommen, müssen wir in der Gemeinde Augen und Ohren offen halten und sehen, wo etwas zu tun ist. In gewöhnlicher menschlicher Nachbarschaftshilfe sollten wir Christen die ersten sein. Daran mahnt uns der gewaltsame Tod der Kinder in Bethlehem, und daran mahnt uns der gewaltsame Tod unseres Heilands Jesus Christus. Es ist an uns mitzuhelfen, daß die Kinder in Bethlehem und Jesus nicht vergeblich gestorben sind.
Und der Friede Gottes ...
Fürbitten
Herr, guter Gott, wir beklagen den gewaltsamen Tod vieler unschuldiger Kinder in Bethlehem, in Deutschland und in der Welt.