Vom verlorenen Schaf

Predigt über Lukas 15,1-7
in der Evangelischen Kirchengemeinde Bonn-Holzlar am 12. Juni 2005, 3. Sonntag nach Trinitatis


Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste läßt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet?

Das ist doch ganz und gar unvernünftig. In der Zeit, wo der Mensch das eine Schaf sucht, verlaufen sich drei andere, und Raubtiere fressen auch noch einige.

Ganz anders spricht Jesus: Ganz selbstverständlich geht der Schäfer dem einen verirrten Schaf nach, der Eigentümer anscheinend. Jeder von euch Zuhörern würde das genauso machen, sagt Jesus mit seinem Gleichnis. Seine Frage, welcher Mensch ist unter euch, kann nur eine rhetorische Frage sein: Da ist doch nicht etwa einer, der das verirrte Schaf im Stich ließe? So einen Menschen gibt es doch gar nicht.

Ich lese aus Lukas 15 das erste der drei Gleichnisse vom Verlorenen.

Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und ißt mit ihnen.

Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste läßt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.

Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Erst die ganze Geschichte macht klar, was abläuft. Jesus kümmert sich um die Zöllner und Sünder, also um kapitalistische Ausbeuter und andere Untäter. Mehr noch: Er ißt mit ihnen, und weil das kein Mahl innerhalb einer Familie ist, heißt das sogar, er feiert mit ihnen.

Die Gerechten, die das Gesetz einhalten, murren: Wer sich, wie Jesus, mit Leuten einläßt, die dauernd gegen das Gesetz verstoßen, macht sich selbst unrein und verstößt selber gegen das Gesetz. Jesus hält dagegen: Die Ausbeuter und Untäter sind irrende Menschen. Wenn einer von ihnen auf den rechten Weg zurückfindet, sich bessert, dann ist das eine große Freude. Und ganz selbstverständlich hilft jeder Mensch dabei, so gut er kann.

Also, es geht gar nicht um eine Hammelherde, um die Abschätzung der Gefahren für Schafe in der Wüste, um Kosten und Nutzen. Die Schafe sind Gleichnis.

Die Deutung sagt: Es geht um verirrte Menschen. Ein Mensch ist immer wertvoll, jeder einzelne. Dies scheint mir der Schlüssel zum Gleichnis zu sein: Jeder einzelne ist wichtig. Jede noch so große Mühe um einen Menschen ist richtig, ist selbstverständlich, ist notwendig. Die Gefahren der Wüste für die Gesunden, für die scheinbar Ungefährdeten, betonen hier nur, wie wichtig jeder einzelne Mensch ist, auch ein verirrter.

Natürlich besteht hier eine Spannung, die auch im Gleichnis sichtbar wird. Ein Vorgesetzter ist, wie der Schäfer, für viele verantwortlich. Er muß abwägen, wieviel Kraft und Zeit er einem einzelnen widmen kann. Diese Kraft und Zeit hat er dann nicht für die vielen. Gegen alle solche Bedenken, gegen die Möglichkeit des Scheiterns, daß der Schäfer das eine Schaf nicht findet, aber in der Zeit drei andere verliert, setzt Jesus seine Aussage: Jeder einzelne ist wichtig. Wer das weiß und verinnerlicht, geht verantwortlich auch mit vielen Untergebenen um.

Das Gleichnis richtet sich natürlich nicht nur an Vorgesetzte. Kollegen, Mitschüler und vor allem Nachbarn sind auch keine Herde, sondern einzelne Menschen, ebenso wie ich selber. Keiner hält sich selber für einen Massenmenschen, keiner sieht sich selber als Teil einer Herde. Jetzt ist es nur ein kleiner Schritt, um zu begreifen, daß jeder Mitmensch ebenso ein Lebewesen für sich, ein Unikat ist.

Hier fällt mir Martin Bubers Übersetzung zu einem Vers aus 3. Mose 19 ein. Luther übersetzt: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Buber begriff die Schwierigkeit, die manche mit der Liebe zu sich selbst haben, prüfte den hebräischen Urtext auf andere Verständnismöglichkeiten und übersetzte "habe lieb deinen Genossen, dir gleich" oder, wenn ich es etwas anders sage, "liebe deinen Nächsten, er ist wie du".

Ich denke, wer einmal bemerkt hat, daß der Mitmensch ähnliche Sorgen und Freuden hat wie er selber, wer das mit dem Herzen sieht, kann ihn auch wenigstens ein bißchen lieben, ihn als einzelnen sehen, ihm vielleicht sogar nachgehen und helfen.

Noch eine Beobachtung ist mir wichtig: In beiden, im Gleichnis und in der Deutung, wird die Freude betont. Der Schäfer legt sich das wiedergefundene Schaf auf die Schultern voller Freude. Ebenso wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut. Die Gelehrten machen Jesus die Moral, und Jesus zeigt ihnen den Weg zur Freude, zu himmlischer Freude sogar.

Durch Mühe und Anstrengung zur Freude, könnte man denken. Aber es ist noch viel schöner: Die Buße selbst, die Umkehr vom falschen Weg, soll Freude sein. Das verirrte Schaf läßt sich gerne retten und nach Hause tragen. Ebenso hat Freude, wer die frohe Botschaft hört und für sich annimmt und tut.

Schade, daß das Wort "Buße" bei uns einen so unfrohen Klang hat. Gemeint ist die Umkehr vom falschen Weg. Auch das Wort "Umkehr" ist leider nur ein schwaches Bild: Wer zweimal umkehrt, geht wieder in die alte Richtung. Wir sollen aber andauernd wachsam sein, erkennen, wo wir irren, und zum wahren Leben finden.

Hier sehe ich noch einen Sprung zwischen Gleichnis und Deutung. Wer ist der Aktive? Im Gleichnis ist der Retter aktiv, das Schaf läßt sich suchen und retten. In der Deutung tut der Gerettete selbst die Buße. Beide sind tätig, der Schäfer sucht und das Schaf meldet sich, indem es blökt.

Der Vergleich von Menschen mit Hammeln ist schon beliebig oft kritisiert worden. Seit Münteferings Wort von den Heuschrecken fechten manche Leute sogar alle Tiervergleiche an. Aber wir brauchen das biblische Lied der Lieder, das Hohelied im Ersten Testament, wirklich nicht umzuschreiben, wo zwei Liebende einander auch mit Tiervergleichen bewundern. Auch heute noch nennen Liebende einander Spatz, Täubchen oder Bär.

Nehmen wir den Vergleich mit den Schafen ebenso freundlich: Für den Schäfer waren und sind das die Ernährer. Das Wort habe ich in unserer Partnergemeinde Groß Breesen kennengelernt, wo der Gärtnermeister seine Hühnerschar als seine Ernährer bezeichnet.

Wir dürfen also das Verhältnis des Schäfers zu seinen Schafen durchaus nüchtern sehen, die Schafe sind seine Lebensgrundlage und die seiner Familie. Kein Wort steht im Gleichnis davon, daß der Schäfer seine Schafe liebt. Er wird sie gern haben, aber doch scheren und am Ende schlachten und aufessen. Damit sind wir sicher nicht gemeint.

Der Vergleichspunkt des Gleichnisses ist die Freude über das Wiederfinden. Der Schäfer freut sich über ein einziges wiedergefundenes Schaf, und im Himmel ist Freude über die Buße eines Menschen.

Was da wiedergefunden wird, ist in beiden Fällen die Lebensgrundlage. Nicht nur das Schaf, das Kleidung und Essen liefert, ist eine Lebensgrundlage des Menschen. Auch die Buße ist für Leben nötig. Sie tut uns gut, ist Voraussetzung für gelingendes Leben.

Wir müssen in vielem umkehren, einzeln und als Gesellschaft, auch als Kirchengemeinde und als Kirche. Zu vieles liegt bei uns im argen, nicht nur in fernen Ländern, auch in Deutschland und in Holzlar und in unseren eigenen Lebensgewohnheiten. Auch wenn wir nichts Schlimmes tun: Manche schaffen es, eine Bewegung in Gang zu bringen, die viel Gutes tut, und andere haben keine Idee und keinen Unternehmensgeist dafür. Aber schon wenn wir einem Nachbarn im Alltag helfen, ist Freude im Himmel.

Freude im Himmel: Wie merken wir die? Ich denke, die Freude, die wir empfinden, wenn wir an einer Stelle dem Ruf Jesu folgen, ist Teil der himmlischen Freude.

Anlaß des Gleichnisses sind Ausbeuter und andere Untäter, mit denen Jesus feiert. Adressaten der Rede Jesu sind die Gerechten, die meinen, das Gesetz einzuhalten. Vielleicht sind wir beides zugleich, gesetzestreu und auf Kosten anderer lebend. Viele hier in Holzlar haben für den öffentlichen Dienst geschworen, das Grundgesetz und alle anderen in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Gesetze zu wahren. Auch die meisten, die das nicht geschworen haben, halten die staatlichen Gesetze ein. Und doch könnten wir sicherlich oft mehr tun.

Unser Predigttext handelt von der Freude. Auch Abgeben macht Freude, und Nachbarschaftshilfe ebenso. Ich wünsche mir, daß jeder von uns in seiner Nachbarschaft aufmerksam schaut, wo jemand Hilfe braucht, und dann hilft, vielleicht sogar rettet.

Hören wir zum Abschluß noch einmal das erste der drei Gleichnisse im 15. Kapitel des Lukas-Evangeliums.

 


Eberhard Wegner / Dank; weitere Predigten