Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich

Predigt zu Römer 11,13-18 am 24. Februar 2002 im Ökumenischen Gottesdienst in der katholischen Kirche Christ König in Bonn-Holzlar


Der Predigttext für diesen Gottesdienst steht im Brief an die Römer. Er richtet sich an Heidenchristen in der Gemeinde, also an Christen, die nicht aus dem jüdischen Volk kommen. Paulus schreibt ihnen:

Euch Heiden aber sage ich: Weil ich Apostel der Heiden bin, preise ich mein Amt, ob ich vielleicht meine Stammverwandten zum Nacheifern reizen und einige von ihnen retten könnte. Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird ihre Annahme anderes sein als Leben aus den Toten! Ist die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist auch der ganze Teig heilig; und wenn die Wurzel heilig ist, so sind auch die Zweige heilig. Wenn aber nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden und du, der du ein wilder Ölzweig warst, in den Ölbaum eingepfropft worden bist und teilbekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, daß nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich.

Paulus vergleicht hier das Volk Israel mit einem Ölbaum und sagt: Die Nichtjuden, die zu Christus gefunden haben, sind eingepfropfte Zweige. Sie kommen nicht aus dem auserwählten Volk, leben aber jetzt von "der Wurzel und dem Saft des Ölbaums". Diese Wurzel und diesen Saft des Ölbaums will ich heute loben und Ihnen schmackhaft machen. Und weil es heute immer noch Menschen gibt, alte und junge, die sich besser dünken als die Juden, will ich die Warnung des Paulus weiter ausführen für heutige Verhältnisse.

Paulus vergleicht die Juden, die nicht zu Christus gefunden haben, mit herausgebrochenen Zweigen. Das klingt nach einem harten Urteil. Aber Paulus sorgt sich gerade um diese Juden. Da Gott die Juden als sein Volk erwählt hat, ist jeder einzelne Jude heilig, das heißt erwählt. Paulus enterbt die Juden nicht, nimmt ihnen nichts weg, arbeitet für ihre Rettung. Er sieht sie als die zuerst Erwählten, ersetzt nicht den Alten Bund durch einen neuen. Für ihn ist der Neue Bund der erneuerte Bund mit Juden und Heiden.

Die zu Christus bekehrten Heiden sind als "eingepfropfte Zweige" jetzt Teil des Baumes, also des Gottesvolkes. Sie leben also aus der Geschichte Gottes mit dem jüdischen Volk, sind hineingenommen in das Alte Testament, in den alten Bund, den Gott mit dem jüdischen Volk geschlossen hat.

Man könnte denken: Das ist vorbei, jetzt gilt das Neue Testament, der neue Bund. So viel ist wahr: Wir Christen leben aus der Beziehung mit Jesus Christus, und wir vertrauen nicht zuerst dem Gesetz, das Gott dem Mose gab, sondern einer Person, dem auferstandenen Christus. Was haben wir noch mit dem Volk der Juden zu tun, mit Juden damals und heute? Warum sollen wir uns überhaupt mit ihnen befassen?

Die Antwort des Paulus ist klar: Wir nichtjüdischen Christen leben von der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, von der Geschichte Gottes mit seinem Volk, auch von der Geschichte Gottes mit dem Juden Jesus.

Und Paulus fügt noch ein historisches Detail hinzu: Nur weil viele Juden es abgelehnt haben, Jesus als den Messias anzuerkennen, geht die Botschaft von Jesus dem Christus jetzt an die Nichtjuden. Paulus missioniert bei nichtjüdischen Völkern. Nur weil er bei vielen Juden vergeblich für Jesus geworben hat, wirbt er jetzt als Apostel der Heiden, der Nichtjuden. Etwas überspitzt könnte man sagen: Die Nichtjuden sind Mittel zum Zweck. Paulus will auf diesem Umweg das Volk Israel retten, seine Stammverwandten, die Juden. Er will so wenigstens einige von ihnen retten.

Wir verdanken es also dem Nein vieler Juden, dass Paulus die Botschaft zu den anderen Völkern gebracht hat und dass die gute Botschaft so auch nach Europa gekommen ist. Die Juden bleiben die zuerst Angesprochenen, die hauptsächlich Gemeinten. Aus den Worten des Paulus spricht große Liebe zu seinem Volk und der Kummer über das Nein.

Paulus sagt: Wenn du dich rühmst, dann denke daran: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.

Es ist nicht so, dass wir uns gar nicht rühmen dürften. Beim Propheten Jeremia spricht Gott (9,23): Wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, daß er klug sei und mich kenne, daß ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden. -- Wir dürfen uns rühmen, dass wir Gott und Christus kennen. Aber wir dürfen uns gewiß nicht auf Kosten anderer Menschen rühmen.

Paulus warnt vor Hochmut der Heidenchristen gegenüber den Juden. Geholfen hat die Warnung nicht. Solcher Hochmut hat sich trotzdem viele Jahrhunderte lang gehalten. Er ist auch heute noch nicht ausgestorben. Wie tief er in uns Christen verwurzelt ist, mögen vier Beispiele zeigen, vom Mittelalter bis in die Zeit des Nationalsozialismus.

-- Erstes Beispiel: In mittelalterlichen Kathedralen findet man "Ecclesia und Synagoge" als zwei Frauen dargestellt, die Figur der Ecclesia, der Kirche, schön und triumphierend, aber die Figur der Synagoge unansehnlich, mit geknicktem Stab und mit verbundenen Augen. Die Augenbinde heißt, die Juden sind blind und erkennen Christus nicht. Das ist in Stein gehauener Hochmut. Hier rühmen sich Christen gegenüber Juden ausgerechnet so, wie Paulus das in unserem Text verhindern will.

-- Zweites Beispiel: Martin Luther, der doch die Bibel sehr gut kannte und die Paulusbriefe besonders gut, hat in seinen späten Lebensjahren leidenschaftlich zur Vernichtung der Juden aufgerufen, zum Verbrennen, und er hat das sogar theologisch begründet. Er erlag damit auch dem Geist der Zeit, leider nicht nur seiner Zeit.

-- Drittes Beispiel: Auch ein so gescheiter Mann wie der Dichter, Zeichner und Kunstmaler Wilhelm Busch war nicht gefeit gegen Hochmut und Rassismus, auch er lobt sich selber auf Kosten von Juden. Ich zitiere aus der Bildergeschichte "Plisch und Plum" von 1882 unter der Karikatur eines in sich hinein grinsenden Juden:

Kurz die Hose, lang der Rock,
Krumm die Nase und der Stock,
Augen schwarz und Seele grau,
Hut nach hinten, Miene schlau --
So ist Schmulchen Schievelbeiner.
(Schöner ist doch unsereiner.)

In meiner Kindheit vor 1945 lag das als Kinderbuch voll im herrschenden Geist oder vielmehr Ungeist. Heute gibt es Wilhelm-Busch-Alben, in denen dieses Kapitel herausgekürzt ist.

-- Letztes Beispiel: Gleich nach 1933 hat die deutsche Regierung Juden aus öffentlichen Ämtern entfernt und viele schon früh zum Auswandern getrieben. Hier hat sich auch die deutsche Kultur und Wissenschaft von einem Großteil ihrer eigenen Wurzeln abgeschnitten. Die "Deutschen Christen" in der evangelischen Kirche haben schon sehr früh versucht, ein Christentum ohne jüdische Elemente zu gestalten. Judenchristen wurden aus dem evangelischen Pfarramt gedrängt. Der Geist, der dahinter stand, war eine Voraussetzung für den späteren organisierten Massenmord an Juden.

Nach diesen vier Beispielen zum Hochmut gegenüber Juden mit schlimmen Folgen komme ich zur Gegenwart. Heute gibt es in Deutschland kaum noch Juden. Die wenigsten Deutschen kennen auch nur einen Juden persönlich. Trotzdem gibt es judenfeindliche Aktionen, und die kommen auch aus dem alten Hochmut des früher christlichen Abendlandes. Jüdische Einrichtungen hier werden rund um die Uhr von Polizei bewacht, für mich ein bedrückendes Bild.

-- Man kann heute kaum vom Volk Israel sprechen, ohne auch den Staat Israel zu erwähnen. Was man in diesen Monaten aus dem Nahen Osten hören muss, ist schlimm und kann einen traurig machen. Beide Parteien, Israelis und Palästinenser, haben sich verkämpft. Jeder der beide Gegner hat den anderen unnötig provoziert und hat wichtige Chancen zum Frieden nicht genutzt.

Eine der Ursachen für das große Sicherheitsbedürfnis des Staates Israel ist die organisierte Vernichtung der Juden durch Deutsche von 1933 bis 1945. Eine Kollektivschuld aller Bürger eines Staates oder Volkes kann es nicht geben, hier so wenig wie dort. Aber Deutschland hat doch bleibende besondere Pflichten gegenüber Israel.

-- Vorhin habe ich Ihnen noch ein Lob von Wurzel und Saft des Ölbaums versprochen.

Die Juden hatten schon eine Schriftkultur, als die Germanen noch nicht einmal ordentliche Bärenfelle hatten. Die meisten jüdischen Männer lasen ihre heiligen Schriften, als unsere Vorfahren noch größtenteils Analphabeten waren. Der griechische Geist, der unsere Kultur mit prägt, ist auch über die Juden verbreitet worden und dann über moslemische Araber zu uns gekommen. Wir müssen Paulus Recht geben: Hochmut ist wirklich nicht am Platze.

Wir leben in zweierlei Hinsicht von "der Wurzel und dem Saft des Ölbaums": zum einen von der Gottesbegegnung des Volkes Israel, beschrieben im Alten Testament, zum andern von unserer Begegnung mit dem Auferstandenen, der ein Jude war und der nur Juden erschienen ist, und diese Begegnung wird uns vermittelt durch das Neue Testament. Auch die Verfasser des Neuen Testaments waren, vielleicht mit Ausnahme des Lukas, allesamt Juden.

Vieles, was wie eine Volksweisheit aussieht, steht schon im Alten Testament. Das ist jedenfalls eine der Wurzeln unserer Kultur. Ich habe aus der Fülle* sieben Beispiele gewählt, aus sieben Büchern des Alten Testaments:

Hervorheben möchte ich noch den Vorläufer der Goldenen Regel im Buch Tobias (4,16) oder Tobit (4,15), einer Spätschrift des Alten Testaments. Luther übersetzt die Stelle so: "Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Das Alte Testament hat Fülle und Tiefgang, ist Wurzel und Saft.

Eine Künstlerin aus unserer Gemeinde sagte mir einmal: Es gibt Gemälde, auf die wirft man einen kurzen Blick und hat alles erfasst. Mit einem guten Kunstwerk ist man nicht schnell fertig, es kann einen lange fesseln. Wenn das so ist, dann ist die Bibel gewiß auch ein Kunstwerk: Man entdeckt immer wieder Neues und Tiefes.

-- Ich fasse zusammen. Bei den Juden haben wir unsere Wurzel. Ziehen wir genug Saft und Kraft aus ihr? Entfalten wir den geistlichen Reichtum, der auf andere Menschen anziehend wirkt? Können wir unsere Mitmenschen außerhalb der Kirche "zum Nacheifern reizen", wie Paulus schreibt?

 


* Anmerkung: Hier sind weitere Sprichwörter aus dem Alten Testament.

Redewendungen aus dem Alten Testament gibt es noch viele mehr, siehe zum Beispiel Büchmann, Geflügelte Worte.


Eberhard Wegner, Evangelische Kirchengemeinde Bonn-Holzlar / Dank; weitere Predigten