Der Maler ULRICH LEIVE und seine FIGURENBILDER



MALEREI DER CHIFFRIERTEN FIGURATION


Ein Essay von Manfred Melles - Kapitel 3



Little Wanderer/Kleiner Wanderer


Little Wanderer - Kleiner Wanderer





- III -


    In einer späteren Phase, in der sich der Maler noch immer befindet, ist auch das vorbei. Die Figuren sind noch stärker vereinfacht. Sie setzen sich nun aus geometrischen Formen zusammen, aus spitzen Dreiecken, die zu Nase, Mund und Armen werden, ein Halbkreis bildet den Hinterkopf, aus Rechtecken entstehen Beine. In endlosen Serien, in immer wieder neuen Variationen und Konstellationen wird gezeigt, was aus dem Menschen geworden ist: eine Chiffre, ein Namenloser unter Namenlosen. Die Figuren haben ihre Körperfarbe verloren, Asssoziationen zu bestimmten Rassen oder ethnischen Gruppen sind nicht mehr möglich, Geschlechtsmerkmale treten nicht mehr hervor! Versuche, Einordnungen nach dem Alter vorzunehmen, müssen fehlschlagen. Es ist klar, es geht um den Menschen „an sich“. Die Chiffre-Figuren sind dunkel oder unwirklich bunt. Füße und Hände fehlen ihnen, sie gehen nicht mehr selbstätig dahin, ihr Handlungsvermögen ist aufs Extremste eingeschränkt, die Augen sind nach innen gekehrt; wenn sie noch etwas von der Welt wahrnehmen, so ein Erinnerungsbild von ihr in ihrem Innern oder ein ebenfalls bloß geistig geschautes Bild einer vagen Zukunft.
    Die Außenwelt als reale Welt ist verschwunden. Sie hat sich aufgelöst und besteht allenfalls noch aus Zeichen. Alte Symbole tauchen auf, Sterne, Kreuze, Runen, Räder oder Brücken, aber auch unbekannte Zeichen, deren Sinn sich erst allmählich erschließt. Die Bildszenerie wird zu „chiffriertem Erzählen“. Sprechen die Figuren nicht auch? Man könnte es meinen. Sie scheinen sich noch irgendwie zu äußern; der Mund ist geöffnet, manchmal ist so etwas wie ein Aushauchen angedeutet. Ob es zusammenhanglose Laute sind, ein Kinderlallen jenseits jeglicher Verstehbarkeit? Ob es Silben sind, die zu Wörtern werden, die etwas bedeuten? Ob die Menschen nur klagen, ob sie für sich selbst reden oder vor sich hin singen, ob sie bewußt Kontakt suchen, eine Resonanz erwarten, einem verborgenen Instinkt gehorchen?
    Der Maler weigert sich, das Figürliche völlig aufzugeben, als fürchtete er sich davor, dem Menschen die Welt, jede Zukunft zu nehmen, wenn er ihn aus seinen Bildern herausließe. Er beharrt darauf, eine Geschichte erzählen zu wollen von seinen Menschen, die niemals Täter, sondern alle auf irgendeine Weise Opfer sind und oft Spuren von Verletzungen tragen. Abstrakte Formen und Farben allein hält er nicht für aussagekräftig genug. Manchmal verschwinden die Figuren, aufs Umrißhafte reduziert, fast völlig in Farbnebeln und sind kaum noch als Reflexe wahrnehmbar. Sie irren durch Farbfelder, bewegen sich in hellen und dunklen Zonen, sie spüren das Licht und werden wieder in das Dunkel der Nacht getrieben. Sie sind unruhig, bis ein blaues Strahlen sie besänftigt, sie würden verzweifeln, wenn da nicht ein anheimelndes Rot wäre, das wohlige Erinnerungen in ihnen wachriefe. So schöpft der Mensch neue Hoffnung. Eine Sonne taucht auf, wärmende Strahlen, die alles beleben könnten, eine innere Sonne auch, die zu neuer Aktivität anregen mag.
    Die verstümmelten Arme versuchen Kontakt aufzunehmen, um die Figuren aus ihrer Isolierung zu befreien und die Abkapselung zu beenden. Eine Art Kommunikation findet statt. Einzelne Figuren schließen sich zu Gruppen zusammen, die Gruppen weiten sich zu unabsehbaren Massen, von denen immer nur Ausschnitte sichtbar sind, der Rahmen verhindert den Blick auf das Ganze; die Figuren dringen von links ins Bild ein und verlassen es nach rechts wieder, und wenn man auch vermutet, daß sich alles auf ein Ziel zubewegt, so bleibt doch das Ziel selbst unsichtbar; innerhalb des Bildes von links nach rechts gehen, das heißt auch, sie kommen aus der Vergangenheit und gehen in die Zukunft; nur vereinzelt stellt sich eine Figur diesem Strom entgegen, sie ist rückwärtsgewandt, sie mag die Zukunft nicht, weil sie das Unbekannte bedeutet, sie will die Zukunft nicht kennenlernen, weil sie sich vor ihr fürchtet.
    Es kann geschehen, daß sich auch das Umrisshafte einer Figur in einem Farbfeld auflöst, gleichsam aufgesaugt wird und wie in einem Nichts verlöscht. Wo ist sie nun hin? Kann sie je in verwandelter Form neu entstehen? Woran liegt es, daß eine andere Figur plötzlich hell erstrahlt, als sei ihr so etwas wie Erleuchtung widerfahren? Die allgemeine Orientierungslosigkeit kann sie nicht mehr schrecken, sie fragt nicht mehr nach dem Sinn des Lebens, sie lebt einfach, und indem sie das tut, wird ihre Welt wieder bunt.



( Fortsetzung )




.
Wanderer, Sonne und Burg/Wanderer, Castle and the Sun


Wanderer, Castle and the Sun
Wanderer, Sonne und Burg




Yellow Thick Line


Home

Offenbarung

Websites

Zurück

Weiter


Yellow Thick Line

Copyright © Manfred Melles