Der Maler ULRICH LEIVE und seine FIGURENBILDER



MALEREI DER CHIFFRIERTEN FIGURATION


Ein Essay von Manfred Melles - Kapitel 2



Two Wanderers/Zwei Wanderer


Two Wanderers - Zwei Wanderer





- II -


    Seit 1989 malt Ulrich Leive FIGURENBILDER. In dem Bibelbild „Exodus“, das den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten zeigt, hatte sich die neue Richtung bereits angekündigt. Nun werden schematisierte Menschen, oft als Wanderer betitelt, einzeln, paar- oder gruppenweise durch abstrakt anmutende Bildgründe geführt. Individualität und anatomische Richtigkeit spielen keine Rolle. Sie sollen, obwohl sie nackt sind, nicht erotisch wirken, die Nacktheit bedeutet, daß man sie sozial nicht definieren kann. Sie sollen einzig auf den Menschen als Typus verweisen. Es sind flächig gemalte, fest umrissene Körper, die an ägyptische, an sumerisch-akkadische Darstellungen erinnern. Auch wenn sie in Bewegung sind, bewegen sie sich wie die späteren, zu einer Chiffre gewordenen Menschen mit der Starrheit von Scherenschnitten. Sie bewegen sich in einer Welt, die zertrümmert ist und nur noch aus versprengten Überresten zu bestehen scheint.
    Man erkennt durcheinandergewirbelte Häuser, andere Menschen, Sterne, eine Sonne. Das wirkt reichlich chaotisch. Ging eine Katastrophe voraus? Was wirklich geschehen ist, weiß man nicht. Ist es überhaupt Außenwelt, was wir sehen? Oder ist es eine nach außen projizierte Innenwelt? Woher kommen die Menschen, wohin gehen sie? Soll man das Geschehen aktuell deuten, wie man es auch bei seinem Bibelbild „Die Posaunen von Jericho“ tun kann? Da geht es bekanntlich um Mauern, die zum Einsturz gebracht werden. Handelt es sich hier um Kriegsflüchtlinge, um weltweite Wanderungsbewegungen, um Menschen, die auf der Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten sind? Oder ist eine metaphysische Deutung beabsichtigt? Sind die Menschen gemeint, die keine feste Bleibe auf der Erde haben, deren Leben nichts als eine ruhelose Pilgerschaft ist? Eine sichere Antwort gibt es nicht.
    Manche strecken in grotesker Überzeichnung einen Arm aus, als würden sie auf ein Ziel hinweisen, als könnten sie ein gelobtes Land an sich heranziehen. Doch solch ein momentaner Versuch gerinnt zu einer Gebärde der Hilflosigkeit, der körperliche Ausdruck einer Sehnsucht hat keine erkennbaren Folgen. Manche füllen das knapp bemessene Bildformat zur Gänze aus, sprengen gleichsam den Rahmen des ihnen zugemessenen Lebensraums, stoßen bereits an seine Grenzen und sind womöglich im Begriff, ihn zu überschreiten. Manche blicken nach oben, als könnten sie da so etwas wie Orientierung finden. Andere haben ihre Augen geschlossen. Sie lassen sich blind treiben oder folgen blind denen, die auch kein festes Ziel zu haben scheinen. Aber ihnen allen ist gemeinsam, daß es noch wirklich Menschen sind. Sie haben Füße, um ihren Weg zu gehen, sie haben Hände, um vielleicht doch noch etwas im wahrsten Wortsinn zu begreifen.



( Fortsetzung )




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Four Wanderers/Vier Wanderer


Four Wanderers - Vier Wanderer




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